Es gibt Lebensfragen, deren Antwort selbstverständlich scheint. Bis sie sich tatsächlich stellen. Vor einer dieser Fragen stand das Ensemble von Birgit Scherzens Bühnenstück Keith, uraufgeführt an der Komischen Oper 1988 im geteilten Berlin. Inspiriert wurde der Überraschungserfolg von einer Keith-Jarrett-Platte, zu der Salar Ghazi eine persönliche Bindung hat. Genau wie zu einer Reihe der Protagonisten, die der Dokumentarfilme in seinem umfangreichen Debütfilm zurückblicken lässt: Auf ihren Umgang mit der Frage: „Gehen oder bleiben?“
In matten Schwarz-Weiß-Bildern, deren Grau in Grau beiläufig die Tristesse der alltäglichen Assimilation transportiert, entfalten sich Biografien, die zugleich Schaufenster in die allzu oft zwischen Verniedlichung, Verklärung und Verhöhnung versickernde Lebensrealität der DDR werden. Als Vorzeige-Talente genossen die damals jungen Tänzer*innen Privilegien, wie die Reiseerlaubnis ins westliche Ausland, das unentwegt lockte. Denn hinter der Suggestion von Freiheit stand die Dauerüberwachung, die Leistungserwartung, das starre Schema, dem die staatlichen Aushängeschilder entsprechen sollten.
Die Nähe zu einigen der Künstler*innen und der einer geschmuggelten Handkamera zu verdankende Reichtum an historischem Filmmaterial sind zugleich Vorzug und Crux des Projekts. Selbiges beschäftigte Ghazi knapp 12 Jahre und so lange fühlt sich die wortwörtliche Revue bisweilen an. Radikale Kürzung hätte nicht nur die Konturen geschärft, sondern den Fokus. Die aussagekräftigsten Momente reflektieren über subtile Manipulation, unbewusste Indoktrinierung und die eigene Zugänglichkeit für Propaganda, die zur Normalität wird, wenn sie überall ist.
Der Umfang des filmischen Materials, das Salar Ghazi über ein Jahrzehnt zusammentrug, erdrückt fast die individuellen biografischen Handlungsstränge, die sich zu einem Muster künstlerischer Ausbruchsversuche verweben. Historische Aufnahmen von Proben und Parties unterbrechen die in schwarz-weiß gehaltenen Interviews mit dem Tanzensemble der Komischen Oper, dessen Mitglieder Wege aus der DDR in den Westen fanden – und manchmal wieder zurück. Die Ausgewogenheit der Tanzfiguren mangelt jedoch dem überlangen Zeitbild, das thematische Gegenwartsbezüge übersieht – oder ängstlich vertuscht.
- OT: In Bewegung bleiben
- Regie: Salar Ghazi
- Drehbuch: Salar Ghazi
- Produktionsland: Germany
- Jahr: 2021
- Laufzeit: 139 min.
- Cast: Gerald Binke, Klaus Dünnbier, Roland Gawlik, Sven Grützmacher, Raymond Hilbert, Birgit Scherzer, Steffi Scherzer, Mario Perricone, Thomas Vollmer, Uwe Küßner, Mario Nätzel
- Kinostart: –
- Beitragsbild © Berlinale