Im September letzten Jahres veröffentlichte das führende französische Branchenmagazin Le Film Francais ein Cover mit sieben ausgewählten Filmschaffenden, die das Kino im kommenden Jahr erobern würden. Alice Diop war nicht darunter; tatsächlich war keine der Personen nicht männlich, weiß und aus den privilegierten Gesellschaftsschichten. Die Episode führt nicht nur anschaulich den Lobbyismus einer überwiegend cis-männlichen, weißen, bourgeoisen, straighten Filmbranche und ebenso zusammengesetzten Filmkritik vor, sondern den dringenden Bedarf an künstlerischen Stimmen wie der Alice Diops.
Die gebürtige Pariserin senegalesischer Abstammung widmet sich in ihrem eindringlichen Spielfilmdebüt erneut den mehrfach Marginalisierten, die im Fokus ihrer Dokumentararbeit standen. Ein doppeldeutiger Verweis auf die lokale Ausgrenzung derer, die als außerhalb des sozialen Gefüges betrachtet werden, ist der titelgebende Gemeindename. Hier beobachtet die junge Autorin Rama (Kayije Kagame) – ein unverkennbares Alter Ego der Regisseurin und Co-Drehbuchautorin – den Prozess der des Mordes an ihrer 15 Monate alten Tochter angeklagten Studentin Laurence Coly (Guslagie Malanga).
Die familiären, kulturellen und biografischen Parallelen zwischen der undurchsichtigen Angeklagten und der ihrerseits schwangeren Zuschauerin verdichten sich zu einem faszinierenden perspektivischen Prisma. Das untersucht die komplexen Mechanismen emotionaler Entfremdung, systemischer Stigmatisierung und unterschwelligen Otherings mittels geschickter Dekonstruktion der pathetischen Parameter des Gerichtsdramas. Die Fragen nach juristischer, moralischer und gesellschaftlicher Schuld enthüllen mehr als die konfrontativen Antworten einer nur scheinbar egalitären Gerichtsbarkeit. Deren latenter Rassismus und eurozentristische Arroganz betonen beider Frauen verstörende Verbundenheit innerhalb unüberwindbarer Distanz.
In ihrem darstellerisch und dramaturgisch gleichermaßen herausragenden Spielfilmdebüt folgt Alice Diop den Verknüpfungen von Nähe, Ausgrenzung und Dissoziation auf sozialer, familiärer und individueller Ebene. Geprägt von ihrer kathartischen Auseinandersetzung mit dem Prozess der des Mordes angeklagten Fabienne Kabou entsteht ein ebenso intimes wie differenziertes Doppelporträt, dessen Protagonistinnen zugleich vertraut und unbekannt, gegensätzlich und spiegelgleich erscheinen. Mit seltener Schärfe erfasst die fesselnde Inszenierung die konservativen Konstanten scheinegalitärer Strukturen und entfaltet in der Opposition ihre subtile Stärke.
- OT: Saint Omer
- Director: Alice Diop
- Screenplay: Alice Diop, Amrita David, Zoé Galeron
- Country: France
- Year: 2022
- Running Time: 122 min.
- Cast: Kayije Kagame, Guslagie Malanga, Valérie Dréville, Aurélia Petit, Xavier Maly, Robert Cantarella, Salimata Kamate, Thomas De Pourquery, Adama Diallo Tamba, Mariam Diop, Dado Diop, Charlotte Clamens, Seyna Kane, Coumba-Mar Thiam, Binta Thiam, Alain Payen
- Release date: 09.03.2022
- Image © Grandfilm