Der letztjährige Gewinner der Goldenen Palme, der dem Publikum eine fast viertelstündige Brech- und Scheiß-Orgie lieferte, in einem Werk, das sich von der ersten bis zur letzten Szene auf nahezu sämtliche unterprivilegierte Gruppen auskotzte, und entsprechend Übelkeit erregend anzusehen war, ist auf der 76. Ausgabe der Filmfestspiele von Cannes Präsident der neunköpfigen Jury des Wettbewerbs. Wäre es nicht so deprimierend, wäre fast schon amüsant. Aber Humor ist nicht die Stärke des zwar nicht besten, aber wohl bedeutendstes der A-List-Festivals und Ruben Östlunds Jury-Leitung ein klares Signal angesichts der Zusammensetzung des Wettbewerbs.
Jener bricht dieses Jahr einen Cannes-kategorischen Rekord mit ganzen sieben Regisseurinnen, die ein Drittel der 21 Kino-Kandidaten der beachtetsten Festival-Sektion stellen. Dabei wurde schon 2022 mit fünf Filmen ein Regisseurinnen-Rekord aufgestellt, 2021 erhielt mit Julia Ducournau gar eine Regisseurin die Palme und 2020 Spike Lee zum ersten Jury-Präsident of color ernannt wurde. So sieht Fortschritt aus in diesem repräsentativen Reichen-Ressort, das ab dem 16. Mai wieder für dreizehn Tage auf der Landkarte erscheint. Aber die zukünftige Generation alter weißer Männer, die sich der eigenen Bias noch weniger bewusst ist, kann aufatmen.
Die Filmfestspiele bleiben eine Instanz cineastischen Konservativismus, Klassismus und Konformismus, dessen Programm unverändert an einen Paternoster von Patriarchalismus und Privilegierung erinnert: Die gleiche Clique Filmschaffender kehrt mal mit kleinem, mal ganz ohne Abstand zuverlässig wieder. Nanni Moretti (A Brighter Tomorrow), Wes Anderson (Asteroid City), Aki Kaurismäki (Fallen Leaves), Ken Loach (The Old Oak), Wim Wenders (Perfect Days und außerhalb des Wettbewerbs Anselm), Hirokazu Kore-eda (Monster), Catherine Breillat (Last Summer), Jessica Hauser (Club Zero), Maïwenn (Jeanne du Barry). Innovative Impulse und Diversität sucht man besser in der Parallelveranstaltung der Semaine de la Critique.
Die Zeitlosigkeit der Kunst, zu der die Filmauswahl von einer spiegelgleichen Kritikerschaft – cis-männlich, bürgerlich, akademisch, straight, weiß, able-bodied – kanonisiert werden, interpretiert Festival-Direktor Thierry Frémaux entsprechend: „Es gibt kein Verfallsdatum für Filmemacher oder für [ihre] Werke“ Dabei offenbart ein Blick auf euphemistisch gesprochen „schlecht gealterten“ Festival-Erfolge der Vergangenheit die Fragwürdigkeit dieser Aussage. Der egozentrische Ewigkeitsanspruch enthüllt die nicht nur konservative, sondern konservatorische Kurzsichtigkeit des Establishments, das die Chance zur Erneuerung längst verpasst hat. Die Frage ist nicht, wann der Elfenbeinturm sich öffnet, sondern wann die davor und darinnen ihn als Gefängnis erkennen.