Wie die Zellen, die einer der vier Charaktere Jianjie Lins doppelbödigen Familiendramas unter dem Mikroskop betrachtet, studiert der Regisseur mit ruhiger Konzentration die psychologische Konstellation vor der Kamera. Deren in sterilen Grau- und Blautönen glänzenden Bilder lassen durch die nüchterne Fassade langsam eine Ahnung lautloser Bedrohung sickern. Eine beständig wachsendes Unbehagen, dessen unklare Ursache es noch stärker macht, untergräbt die trügerische Eintracht der fragilen Ersatz-Familie, die sich aus der flüchtigen Kameradschaft der jungen Hauptfiguren entwickelt.
Der schleichende Verdacht, dass die Rollen in der scheinbar symbiotischen Gemeinschaft anders verteilt sind, gibt der geschliffenen Story Nuancen von Parasite und Saltburn, ohne deren Motive zu überschatten. Deren markantestes ist der Wunsch nach einer alternativen Wirklichkeit, in der alte Wunden nie entstanden sind. Der Versuch, einen Unfall wiedergutzumachen initiiert die ambivalente Freundschaft zwischen Shuo (Xilun Sun) und Wei (Lin Muran), dessen wohlhabende Eltern den stillen Schulkameraden ihres Sohnes immer enger in ihre Familie einbinden.
Mit überlegten Gesten und enthüllten Verletzungen gewinnt Shuo Weis Mutter (Guo Keyu), die in ihm ihr während der Ein-Kind-Ära abgetriebenes Kind sieht, und dessen über die schlechten Schulleistungen seines Sohnes frustrierten Vater (Zu Feng) für sich. Wei, der erst von der veränderten Atmosphäre daheim zu profitieren schien, kommen Zweifel an Shuos Berichten von seinem gewalttätigen Alkoholiker-Vater. Doch was sich unter der Fassade elterlicher Fürsorglichkeit abzeichnet ist persönlicher und pathologischer als die sozialpsychologischen Narben eines invasiven Staatssystems.
Mit den dichten Stilmitteln von Psychothriller und Mystery unterstreicht Jianjie Lins eindrucksvolles Spielfilm-Debüt die tiefsitzenden Traumata einer Familie, deren äußerer Wohlstand emotionale Verkümmerung tarnt. Schwelende Konflikte dringen in trivialen Gewohnheiten an eine gesellschaftliche Oberfläche, die Autorität und Anpassung über individuelle Befindlichkeiten stellt. Präzise Darstellende und latente Figurendynamik steigern einander in der mehrdeutigen Inszenierung. Deren distanzierte Dramatik wird zur Analogie der emotionalen Entfremdung innerhalb eines moribunden Mikrokosmos, dessen soziopathische Schattierungen ein verzweifeltes Bedürfnis nach Nähe kompensieren.
- OT: Jia ting jian shi
- Director: Jianjie Lin
- Screenplay: Jianjie Lin
- Country: China, France, Denmark, Quatar
- Year: 2024
- Running Time: 99 min.
- Cast: Ke-Yu Guo, Muran Lin, Sun Xilun, Zu Feng
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