Vielleicht waren die Erwartungen zu groß. An eine neue Ära nach Carlo Chatrian, der in sechs Festival Ausgaben fast alles kaputt machte, was Kosslick in 17 Jahren aufgebaut hatte. An die neue Festival-Direktorin Tricia Tuttle, die das Programm entrümpeln und aufpolieren sollte. An die Stars, von denen sich endlich wieder einige auf den Roten Teppich verirrten. Und an die Filme. Davon war einiges Müll, wenig meisterlich und viel Mittelmaß. Selbst politisches Aufsehen wie letztes Jahr gab es nur am Rand. Letztes ist eine der großen Enttäuschungen der 75. Berlinale. Immerhin hatte Tuttle im Dezember erklärt, die deutsche Positionierung zum Gaza-Konflikt und öffentlichen Äußerungen dazu verschrecke Kunstschaffende. „People are worried about: ‘Does it mean I won’t be allowed to speak?“
Die Befürchtung bewahrheitete sich für den chinesischen Regisseur Jun Li, der nach einer Vorführung seines dritten Spielfilms Queerpanorama einen Brief Schauspieler Erfan Shekarriz‘ verlas. Dabei fiel der Auruf „from the river to the sea, Palestine will be free“. Der Staatsschutz ermittelte daraufhin gegen Li, der das Publikum ermutigte, die Redefreiheit „in Zeiten eines autoritären, faschistischen und angsteinflößenden politischen Klimas” zu verteidigen. Lis Kommentar, „no one is free, until we‘re all free“ äußerten – allerdings ohne Folgen – auch die Regisseurinnen Emma Hough Hobbs und Leela Varghese nach dem Screening ihres Debütfilms Lesbian Space Princess. Tuttle ihrerseits trug auf der Eröffnungsgala ein Foto des israelischen Schauspielers David Cunio, der von der Hamas als Geisel genommen wurde.
Ob Cunios Film auf der Berlinale laufen würde, wenn die diesjährige Ehrenbären-Trägerin Tilda Swinton erhört würde? Sie betonte ihre Unterstützung der BDS-Kampagne. Die Kampagne fordert allerdings einen Berlinale-Boykott. Soweit gehen wollte Swinton dann nicht, denn das Festival sei „eine wichtige Bühne“. Unter Tuttle zeigt sich zumindest das Potenzial, eine solche Bühne zu werden. Bong Joon-hos Mickey 17, Richard Linklaters Blue Moon, und James Mangolds Like A Complete Unknown waren die Coups ihres ersten Jahres. Die Überraschungserfolge aus Sundance If I Had Legs, I‘d Kick You, Lurker, BLKNWS: Terms & Conditions, Mad Bills To Pay und The Ugly Stepsister trafen die perfekte Balance zwischen Arthouse Indie Kino und Publikumserfolg. Auch die deutsche Präsenz des Genrefilms war eine Wohltat.
Zwar erwiesen sich die Beiträge der neu geschaffenen Sektion Perspectives für Spielfilm-Debüts ernüchternd, aber dafür wurde die Chatrian-Sektion Encounters abgeschafft. Die überschaubare Zahl deutscher Wettbewerbsfilme lässt hoffen, dass der Filmqualität zukünftig mehr wiegt als nationalistisches Favorisieren. Vorbei ist es mit Klüngeln und Altherren-Kino indes nicht. Das unterstrich die Wettbewerbspräsenz von Hong Sang-soo, Radu Jude, Lionel Baier, Dag Johan Haugerud. Dass Haugerud für den letzten Teil seiner Oslo-Trilogie Dreams den Goldenen Bären erhielt, war frustrierend, aber bizarr zeitgemäß: die Honorierung eines selbstverliebten altväterlichen Bourgeoisie-Kinos, das Queerness und Schwarze Menschen zugleich ablehnt und fetischisiert, und seinen Status dadurch beweist, dass es in einer Zeit politischer, wirtschaftlicher und klimatischer Krisen über Wohlstandsprobleme schwadronieren kann. Conspicuous Cinema.