Die griechische Presse traue sich nicht, darüber zu schreiben, erklärt NGO-Mitarbeiterin Alice Kleinschmidt mit Bezug auf die staatlichen Menschenrechtsverletzungen im Zentrum Jennifer Mallmanns Dokumentarfilms. Aber wenn man nicht darüber berichtet, was sei dann noch übrig? Die rhetorische Frage, die ich zufällig von einer andere mittelständischen weißen Frau kommt, wirkt wie eine Selbstrechtfertigung der Regisseurin. Ihr Blick kommt von einer privilegierten Position, aber mit der Absicht, die Aufgabe zu erfüllen, an die sich sonst niemand herantraut.
Doch was genau ist diese Aufgabe? Die unmenschlichen illegalen Abschiebungen der griechischen Regierung aufzuzeigen? Die wahre Ursache des verheerenden Brandes des Flüchtlingslagers in Moria auf Lesbos zu ermitteln? Die Unschuld der afghanischen Geflüchteten, die der Brandstiftung verurteilt wurden, zu beweisen? Nichts davon gelingt dem betont nüchternen Amalgam von Investigativ-Doku und Exposition überzeugend. Die in eine kühle, diesige Aura getauchte Inszenierung mäandert zwischen Interview-Gespräch, einem persönlichen Briefwechsel der Regisseurin mit einem der Verurteilten, Archiv-Material und Insider-Einblicken.
Letzte sind der beklemmende Höhepunkt der niederschmetternden Bestandsaufnahme: ein verstörender Blick hinter den Stacheldrahtzaun Morias neuen Lagers. Dessen Gittertor öffnete sich Mallmann wohl auch dank des Status, der ihre mitleidige Perspektive problematisch macht. Bereits das abgebrannte Lager wurde von Human Rights Watch als Freiluft-Gefängnis eingestuft. Der neue Komplex gleicht einem Hochsicherheitsgefängnis. Dicke Mauern, Überwachungsanlagen, Stacheldraht, Schotter-Flächen. Camp Manager Dimitri Axiotis, der Mallmann und Kamerafrau Sina Diehl herumfährt, gibt den Tour-Guide. Sein Stolz ist nicht zu überhören.
Diehls Kamera fixiert spürbar beeindruckt die fensterlosen Wände, die elektronischen Gittertüren, den Röntgen-Scanner, in den selbst Kinder ihre Sachen legen müssen. Es gibt ein separates Areal für Alleinerziehende, für unbegleitete Minderjährige, für Covid-Infizierte. Und Kameras, überall. „Sogar Wärmekameras“, schwärmt Axiotis. „… und zu Ihrer Linken eine wunderschöne Aussicht auf Mytilene!“ Fast erwartet man, dass es beim Ausstieg Kaffee und Kekse gibt oder jemand billige Schlüsselanhänger verkauft. Doch selbst ein zynisches Lachen vergeht angesichts der staatlichen Skrupellosigkeit.
Wer in das Flüchtlingsgefängnis kommt, hat womöglich noch Glück gehabt. Kleinschmidt beschreibt, wie viele der Geflüchteten direkt bei der Ankunft am Ufer von vermummten Männern in Kleinbusse abgefangen und auf offener See ausgesetzt werde, in kleinen Schlauchboote ohne Motor. Die Menschen, die nicht von der türkischen Küstenwache aufgelesen werden, ertrinken. Mallmann gibt sich schockiert, dass niemand eingreift. Aber letztlich tut auch sie nicht mehr als sich zu empören. Das Resultat hat das zwiespältige Air von Betroffenheitskino.
Mit der Fahrt durch das Hochsicherheits-Camp auf Lesbos gelingt Jennifer Mallmann ein zwiespältiger Coup. Die erschreckenden Eindrücke des Ortes, an dem Schutzsuchende wie Schwerverbrecher behandelt werden, liefern den frühen Höhepunkt einer frustrierend mutlosen Doku auf dem Level Eier TV-Reportage. Der direkte Kontakt zu NGO-Mitarbeitenden, dem Camp-Direktor und sogar einem der Verurteilten liefert kaum neue Erkenntnisse. Statt aktiv die Verantwortlichen mit ihren Menschenrechtsverstößen zu konfrontieren und eigenständig zu recherchieren, setzt die betretene Inszenierung auf Fremdmaterial und Opfer-Ausstellung.
- OT: Moria Six
- Director: Jennifer Mallmann
- Screenplay: Jennifer Mallmann
- Year: 2025
- Distribution | Production © FFL Film und Fernsehlabor Ludwigsburg GmbH