Der ‘Man vs Nature’ Konflikt, um den Max Keegan seine differenzierte Doku aufbaut, gewinnt ihren Reiz geradeaus der Distanz zum typischen Öko-Aktivismus-Kino oder Abenteuer-Reportagen. Die Menschen, die sich dem Erhalt der Natur, in und von der sie leben, am heftigsten widersetzen, sind auch diejenigen, die ihr besonders innig verbunden sind. Wie der greise Titelcharakter. Yves wandert seit über 50 Jahren in die französischen Pyrenäen, um seine Schafe zu hüten. Das ist sein Berg und er fühlt sich als Herr der imposanten Natur. Bis diese ihn in Gestalt eines Braunbären an seinen Platz erinnert.
Zusätzlich verkompliziert wird das unfreiwillige Nebeneinander von Mensch und Raubtier durch den Umstand, dass beider Kampf um die Dominanz in den Bergen entschieden schien. Der letzte Bär wurde 2004 getötet. Doch ein Artenschutz-Programm wildert einen neuen Bären in der Gegend aus und der hat schon mehrere Schafe gerissenen. Plötzlich ist das Aussterben ihrer Lebenstradition nicht mehr die größte Sorge der Schäferleute der kleinen Gemeinde. Die Anwohnenden sorgen sich, dass die wenigen jungen Leute, die ihre Arbeit weiterführen wollen, aus Angst vor dem Raubtier aufgeben.
Selbst Warnschüsse gegen die Bären sind verboten. Alles, was sie haben, ist ihr Stock, ihr Hund und eine Taschenlampe, klagt eine junge Schäferin, die bei Yves das Handwerk lernt. Wie sie fürchten viele nicht nur um ihre Herden, sondern die eigene Sicherheit. Ein Schäfer wurde bereits angefallen, als er zwei Jungtiere aufscheuchte. Mama Bär wurde reichlich grimmig. Man muss nicht The Revenant gesehen haben, um zu ahnen, dass eine solche Situation fatal enden kann. In dem Fall traf es beide.
Die Bärin erwischte ein tödlicher Schuss, den Schäfer eine Haftstrafe wegen Verstoßes gegen das Artenschutz-Gesetz. Mit aufmerksamem Blick und leisem Humor, der stets Respekt vor Menschen und Tieren wahrt, beobachtete Keegan das Geschehen. Für die nötige Dramatik und Atmosphäre sorgt die Natur selbst. Wenn ein Sturm den Himmel verdunkelt und Grollen durch die finsteren Wälder hallt, zeigt sich die urige Kraft der Landschaft. Sind die Schäferleute Teil dieser Natur? Oder Eindringlinge, die sie Stück für Stück zerstören?
In scharfgestochenen Szenen entfacht in Max Keegans observative Natur-Doku ein alter zivilisatorischer Konflikt. Angespornt wird der Zwist zwischen Mensch und Bär durch Einmischung Außenstehender, die mit der Umwelt, in die sie eingreifen, kaum in Berührung kommen. Bewusst ergreift der Regisseur keine Partei. Beide Fronten, die für die Bären und die dagegen, haben nachvollziehbare Argumente. Ökologische, soziale und strukturelle Fragen erhellen die verschiedenen Facetten einer Debatte, die sich in Zeiten dramatischen Artensterbens und von Klimaumbrüchen nur dringlicher werden wird.
- OT: The Shepherd and the Bear
- Director: Max Keegan
- Screenplay: Max Keegan
- Year: 2024
- Distribution | Production © Willa