In einer unerwarteten Szene Isabelle Ingolds und Vivianne Perelmuters kontemplativer Charakterstudie fährt der Vietnam-Veteran Al Moon auf einer nächtlichen Landstraße ein Reh an. Die Motorhaube hat ein paar Kratzer abgekriegt, doch das Tier flieht weiter in die Wälder, scheinbar unverletzt. Das Ereignis wirkt auf seltsame Weise sinnbildhaft für das Leben des gealterten Protagonisten, der den Krieg, der so viele Leben kostete, unverletzt überstand. Die Szene ist einer jener raren magischen Momente in Dokumentarfilmen, die sich nicht planen oder vorhersehen lassen.
Nicht nur deshalb wirkt das Ereignis länger nach als manch andere der gewichtigen Metaphern der elegischen Union aus Road Movie und Reportage. Deren Handlung folgt Moon auf einer Tour quer durch das amerikanische Herzland zu einem Veteranentreffen. Der schwermütige Hauptcharakter erhofft sich von dem Wiedersehen mehr als eine gute Zeit mit alten Kameraden. Der Native American, der sich seiner Kultur und seinem Land entfremdet fühlt, hofft auf den Abschluss mit einer traumatischen Vergangenheit, die sich bruchstückhaft im Laufe des Films enthüllt.
Ob die Regisseurinnen das Projekt im Wissen um dieses biografische Ereignis begannen und ob Moon, der auch als Co-Drehbuchautor gelistet ist, von Anfang an plante, dieses Schlüsselerlebnis vor der Kamera zu teilen, bleibt unklar. Doku-Drama und philosophische Persönlichkeitsstudie verbinden sich organisch zu einer melancholischen Meditation über biografische Narben, die untrennbar mit denen der Landesgeschichte zusammenhängen. Die Fahrt, die Moons Gedankengänge aus dem Off begleiten, führt in seine Vergangenheit und in die Seele und Geschichte einer Nation, die nicht minder verwundet ist.
In düsteren, suggestiven Bildern, in denen Wehmut nach der Vergangenheit und das Bedürfnis, sie zu vergessen, in beständigem Zwiespalt stehen, begeben sich Isabelle Ingold und Vivianne Perelmuter auf eine dokumentarische Reise in die Erinnerung eines Mannes und die eines Landes. Dessen Mythos ist tief im Herzen der USA noch lebendig und dennoch stets als revisionistische Fiktion greifbar. Die meditative Atmosphäre rückt oft nah an visuelle Mystifizierung, fängt sich aber stets im pragmatischen Fokus auf Survivor‘s Guilt, ambivalente Nostalgie und Identitätsverlust.
- OT: Les Recommencements
- Director: Isabelle Ingold, Vivianne Perelmuter
- Screenplay: Al Moon, Isabelle Ingold, Vivianne Perelmuter
- Year: 2025
- Distribution | Production © La Huit Production