Die Inhaltsangabe zu Marianne Elliotts filmischem Regiedebüt klingt nach einem Drama über geflüchtete Menschen am gesellschaftlichen Rand. Tatsächlich geht es in dem autobiografisch basierten Reiseroman um ein mittelaltes, mittelständisches, weißes, straightes Ehepaar, das sich in einer Sinn- und Statuskrise neu orientiert. Eine Fehlinvestition kostet Raynor (Gillian Anderson) und Moth Winn (Jason Isaacs) Farm und Grundstück. Der abrupte Verlust von Sozialprestige und Stabilität führt zum Entschluss, während des Sommers den 1000 km langen South West Coast Path zu bezwingen.
Womöglich planten beide von Anfang an, um ihre Erfahrung einen Roman zu stricken. Immerhin gibt es reichlich vergleichbare Bücher, deren Klischees und Konventionen denn auch alle bedient werden. Entsprechend spannungsreiche und konstruiert ist die Handlung, die ihr emotionales Momentum einzig Andersons und Isaacs zurückgenommenen Darstellungen verdankt. Statt beider wirtschaftliche Umstellung für eine Reflexion über Statussymbole und bürgerliche Selbstwahrnehmung zu nutzen, bedient Rebecca Lenkiewiczs Adaption Raynor Winns gleichnamigen Bestsellers die verzerrte Klassenwahrnehmung der Hauptcharaktere.
Deren soziales, bildungstechnisches und strukturelles Kapital wird ausgeblendet; sowohl auf narrativer Ebene als auch von Moth und Raynor. Die beiden bezeichnen sich wiederholt als obdachlos, obwohl ihre Situation nicht annähernd so prekär ist, wie dialogisch und dramatisch behauptet. Neben den monatlichen Einnahmen, mit denen sie ihre Wanderung finanzieren, haben beide mindestens den unpfändbaren Grundbetrag. Doch darüber schweigt sich die Story aus, genauso wie über den Grund, dass die beiden nicht auf die Dringlichkeitsliste für Wohnungssuchende kommen.
Noch ärgerlicher ist die verzerrte Darstellung ihrer Backpacker-Erfahrungen. Was für die Mittelständler als Zumutung und Extremsituation dargestellt wird, ist für Menschen aus der Unterschicht völlig normal: nachts frieren, sich von Pasta ohne alles ernähren, zur Essenverteilung gehen und Trinkwasser auf öffentlichen Toiletten nachfüllen. Die filmische Tour vor malerischer Landschaftskulisse begleiten die üblichen amüsanten, mal ungemütlichen und herzerwärmenden Episoden. Die vermitteln ein paar abgegriffene Pseudoweisheiten, die unabsichtlich die privilegierte Verbendung der Figuren unterstreichen.
Beide empfinden in der Natur wahres Freiheitsgefühl und fühlen sich besitzlos glücklich (solange die regelmäßigen Bankzahlungen kommen). Raynor ist stolz auf den Lohn physischer Arbeit und Moths unheilbare Erkrankung bessert sich unversehens. Kenntnis der Buchvorlage braucht es nicht, um zu wissen, dass sich schlussendlich alles zum Guten wendet. Dieser seichte Moralismus, gepaart mit Retorten-Reise-Romantik und Alters-Abenteuer wäre erträglich, würde nicht hartnäckig und wiederholt behauptet, dass die Winns reale Obdachlosigkeit und Armut erleben würden.
Mit ihrer Verfilmung des gleichnamigen Bestsellers schafft Theaterregisseurin Marianne Elliott eine unabsichtliche Lektion in klassistischer Borniertheit. Der Plot und die wahren Begebenheiten, vermarkten ein selbstgewähltes Abenteuer als existenzielle Krise. Die groteske Unkenntnis realer Armut zeigt sich am deutlichsten darin, dass diese als befreiend und stärkend hingestellt wird. „Ein Geschenk“, wie es vor der pittoresken Naturkulisse genannt wird. Die Mischung aus Selbstdarstellung, Selbstmitleid und Selbstverklärung hinterlässt trotz der patenten Darstellenden einen üben Beigeschmack, der die süßliche Sentimentalität überdeckt.
- OT: The Salt Path
- Director: Marianne Elliott
- Screenplay: Raynor Winn, Rebecca Lenkiewicz
- Year: 2024
- Distribution | Production © DCM Filmdistribution