In stockfinsterer Nacht erreicht die junge Protagonistin Louise Hémon enigmatischen Spielfilm-Debüts den entlegenen Schauplatz, zwischen dessen Holzhütten ihre Laterne das einzige Licht ist. Die geheimnisvolle Szene etabliert zugleich die märchenhafte Aura des suggestiven Historiendrama und dessen stimmungsvolle Symbolsprache. Aimée (Galatéa Bellugi) soll als die wohl erste Grundschullehrerin in dem verschneiten Alpendorf buchstäblich das Dunkel von Aberglaube und Ignoranz erhellen. Ein Buch Descartes, das sie im Kerzenschein als Bettlektüre liest, charakterisiert Aimée als Repräsentantin der Aufklärung.
Doch das Ringen von Vernunft und Bildung mit anarchischen Trieben und Überlieferungen zum Ende des 19. Jahrhunderts entspinnt sich anders, als es der Auftakt erwarten lässt. Ihr strenges Auftreten und ihre emsige Pflichterfüllung machen die junge Frau umso mehr zum Fremdkörper in der kleinen Gemeinde. Deren Mitglieder begegnen ihr mit einer Mischung aus Skepsis, Neugier und Pragmatismus; wie einer modernen Maschine, die verblüffende Dinge weiß und kann, aber kaum brauchbar ist in der rauen Bergwelt.
Dieser wie aus der Zeit gefallene Mikrokosmos, der dem 18. Jahrhundert näher scheint als dem 20., das vor der Tür steht, spielt die heimliche Hauptrolle neben Bellugi. Ihre heimlichen Blicke und kleine Gesten verraten die gespenstische Wandlung ihrer Figur. Als ob die grandiose Berglandschaft einen vergrabenen Instinkt in ihr erweckte, ergreift eine unbestimmte Begierde von Aimée Besitz. Kurz nach ihrer Ankunft geht eine Lawine nieder und ein Dorfbewohner wird vermisst. Das vermeintliche Unglück bleibt kein Einzelfall.
Bald verschwindet ein weiterer junger Mann und die Dorfbewohnenden sehen Aimée des Nachts durch den Schnee huschen. Nicht nur der leichtherzige Pepin (Samuel Kirchner) und der aufgrund seiner Neurodiversität als stigmatisierte Ènoch (Matthieu Lucci) fühlen sich zu ihr hingezogen. Bewusst lässt Hémon buchstäblich im Dunkeln, was die mysteriösen Vorgänge bedeuten. Marine Atlans atmosphärische Kameraaufnahmen wechseln zwischen sonnenklaren Tagen und gespenstischen Nachtszenen. Feuerschein, Mondlicht oder eine Kerzenflamme beschwören uralte Mythen männerraubender Naturgeister herauf, ohne sie zu bestätigen.
Untermalt von Emile Sornins suggestivem Soundtrack entwirft Louise Hémon ein cineastisches Pendant zur Genremalerei, schwebend zwischen Realismus, Symbolismus und Schwarzer Romantik. Vor erhabenen Naturkulissen schafft die atmosphärisch dichte Inszenierung eine hintergründige Fabel über die durchlässige Grenze zwischen Ratio und Mystizismus. Der mehrdeutige Originaltitel „Die Versunkene“ deutet auf die interpretativen Facetten der parabolischen Story, die sich als Geistermärchen oder Sittenbild auslegen lässt. Galatéa Bellugi gibt die beste der naturalistischen Darstellungen des immersiven Debüts eines spannenden Regietalents.
- OT: L’engloutie
- Director: Louise Hémon
- Year: 2025