Eine heruntergekommene Bar in der Pariser Vorstadt, ein Gewinner-Lotterielos über Hunderte Millionen Frances, eine Waffe, eine Handvoll zusammengewürfelter Charaktere, die das Geld alle gut gebrauchen können: Für seinen zweiten Spielfilm mixt Vincent Maël Cardona, der bereits mit seinem Langfilm-Debüt Magnetic Beats in Cannes in der Director‘s Fortnight vertreten war und diesmal unter den Midnight Movies läuft, die klassischen Zutaten eines mörderischen Crime-Cocktails. Tatsächlich So klassisch, dass eine Reihe Filmschaffende vor ihm ganz ähnliche Stoffe ablieferten.
Um diese generischen Tendenzen zu überwinden, folgt die Handlung einer chronologisch und perspektivisch verschachtelten Struktur. Die Ereignisse entwickeln sich fragmentiert und wiederholt aus den individuellen Blickwinkeln der Beteiligten, die sich in den fühen Morgenstunden in der schäbigen Bar des (original)titelgebenden Namens befinden: Elite-Schüler Erwan (Joseph Olivennes), die Polizisten Reda und Livio (Sofiane Zermani; Pio Marmaï), Krankenwagenfahrer Abel (Panayotis Pascot), der angespannt Comar (Nemo Schiffmann), Barbesitzer Nico (Xianzeng Pan) und Kellnerin Esmé (Lucie Zhang).
Als der alte Stammgast Mr. Kantz (Claude Aufaure) sein Lotto-Ticket vergisst und sein Hauptgewinn offenbar wird, ringen alle darum. Mal ist das vorrangig ein Kampf mit dem eigenen Gewissen, mal ein physisches Duell auf Leben und Tod. Der klaustrophobische Schauplatz wird zum Hinterzimmer der Hölle, die ihre Gäste nicht entkommen lassen will. Alle Fluchtwege – wie eine Kriechgang durch einen Belüftungsschacht – führen zurück an den schmuddeligen Schlüsselort. In demonstrativem Kontrast dazu steht die in Prolog und Epilog besuchte Kulisse.
Erwan beginnt seine lange Nacht vor dem fatalen Morgen auf einer Party in Versailles. Dort hält er einem verunsicherten Mitschüler stellvertretend für das Kinopublikum einen reichlich zugekoksten Vortrag über die Klassengesellschaft. Auch die Bar-Besuchenden – Elite, Beamte, Kleinunternehmer, Akademiker, Arbeiterin, Kleinkrimineller – berühren das Motiv sozialer Hierarchien. Die wilden Theorien von Umverteilung, Revolution und der Willkür des Schicksals sind jedoch nur Blattgold auf der brüchigen Dramaturgie. Deren unnötige Verkomplizierung untergräbt neben der Suspense auch die düster-fatalistische Tonalität.
Ein Zeitsprung zur Ära des die Schlüssel-Settings beherrschenden Regenten akzentuiert den systemkritischen Subtext Vincent Maël Cardonas kriminalistischen Kammerspiels. So raffiniert wie es ein paar prätentiöse Phrasen über Historie und Hierarchien behaupten, ist das verwickelte Genre-Werk indes weder dramaturgisch noch intellektuell. Unterhaltsamer ist die nervöse Spannung des schwarzhumorigen Szenarios, dessen dumpfe Farbpalette die unheilvolle Atmosphäre verstärkt. Die fließende Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven, Zeitschienen und sogar von Vorstellung und Realität schaffen absichtlich Desorientierung, passend zur Aura psychopathischer Paranoia.
- OT: Le Roi Soleil
- Director: Vincent Maël Cardona
- Year: 2025