Nach einem kurzen Ausflug in die stärker fiktional geformte Filmlandschaft von Alcarràs, der Carla Simón vor drei Jahren auf der Berlinale den Goldenen Bären einbrachte, kehrt die spanische Regisseurin zurück zur essenziellen Thematik ihres filmischen Schaffens. Jenes begann mit autobiografischen Erkundungen ihres Verhältnisses zu ihren. Simóns Mutter und Vater starben, als sie noch ein kleines Kind war. Was ihr blieb, sind ein paar verschwommene Erinnerungen und karge Informationen einer Familiengeschichte, die ihre übrige Verwandtschaft verschweigt als wäre sie ein schmutziges Geheimnis.
Dass sie selbst ein Teil dieses Geheimnisses ist, ist eine der schmerzlichen Erkenntnisse der jungen Protagonistin. Filmstudentin Marina (eindrucksvolles Debüt: Llúcia Garcia) ist unverkennbar ein Alter Ego der Regisseurin, die den zentralen Handlungsstrang im Jahr 1998 mit Rückblenden in die frühen 80er verflechtet. Einen dritten narrativen Strang bietet das Kamera-Tagebuch der Hauptfigur über ihre Reise nach Galizien. Dort trifft sie zum erste Mal ihren Großvater väterlicherseits und ihre Verwandtschaft. Hinter deren bemühter Freundlichkeit lauern Ablehnung, Apathie und eine irrationale Angst vor Marina.
Ihre Cousinen fragen scheinbesorgt, ob sie krank sei, ihr Großvater versucht sie mit einem großzügigen Studiengeld loszuwerden und was sie über ihren Vater erfährt, widerspricht den Berichten anderer. Wenn ihre Tanten Marinas auffällige Ähnlichkeit zu ihrer Mutter feststellen, ist dies kein Kompliment. Für ihre Angehörigen ist sie eine gespenstische Reinkarnation; halb Rachegeist, halb familiärer Fluch. In bitterer Ironie ist das Blut, das die Verwandtschaftsbeziehung belegt, auch die Ursache deren Ablehnung. Der Grund dafür erschließt sich früh: Beide Eltern starben an AIDS.
Dessen Stigma potenziert sich mit dem von Homosexualität und Drogenkonsum, mit dem die Krankheit untrennbar verbunden wurde. Tatsächlich infizierten sich Marinas Eltern offenbar durch Nadelgebrauch beim Heroinkonsum. Dafür geben die Tanten Marinas Mutter die Schuld, während der Großvater seines Sohnes Erkrankung gänzlich verleugnet. Die surrealen Rückblenden in Super-8-Optik vermischen Drogenrausch und Liebesrausch der damals jungen Eltern. Kamerafrau Hélène Louvart findet Bilder von bitter-süßer Poesie für diese Gedankenwelt zwischen Traum und Realität, in die sich die novelleske Selbstfindung immer weiter verliert.
Stimmungsvolle Bilder, eine idyllische Landschaftskulisse und das markante Schauspiel von Newcomer Llúcia Garcia verleihen Carla Simóns autobiografischer Pilgerreise – so die wörtliche Übersetzung des spanischen Titels – mehr Ausdruckskraft als der Story. Deren vielschichtige Problematik kollektiver Verleugnung, überlieferter Stigmatisierung und familiärer Identitätssuche schwächt die Selbstverliebtheit der Regisseurin. Ihre melodramatische Familiensaga kokettiert mit der Tragik und stilisiert ihr filmisches Alter Ego zu einer gleichsam intelligenten, talentierten und attraktiven Rebellin. Deren retrospektiver Reiseroman verdreht Privilegien geschickt zu Herausforderungen und bedient mehr Narzissmus als Aufarbeitung.
- OT: Romeria
- Director: Carla Simón
- Year: 2025