Sind die Erinnerung eines Menschen das Produkt seiner Persönlichkeit? Oder ist die Persönlichkeit die Summe der Erinnerungen? Wer ist man, wenn alle Erinnerungen ausgelöscht werden? Und welche Bedeutung haben die eigenen Erinnerungen, wenn man selbst nicht mehr existiert? Diesen gewichtigen Fragen widmet sich Davi Pretto in seinem vierten Spielfilm, der als einziger brasilianischer Beitrag in der Proxima Competition von Karlovy Vary läuft. Psychodrama, Science-Fiction und Technophobie-Thriller formen ein atmosphärisch dichtes Amalgam, das die langfristigen Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die menschliche Psyche hinterfragt.
Der 40-jährige K (Zé Maria Pescador), dessen Initiale und Alter überdeutlich auf Franz Kafka verweisen, sucht im Porto Alegere der nahen Zukunft nach Spuren seines Ichs. Wie viele Menschen in dieser rigoros gespaltenen Gesellschaft, deren Klassengrenzen mit bewachten Sicherheitszäunen gezogen sind, leidet der verschlossene Protagonist an einer neuartigen neurologischen Störung. “Neurodeflation” befällt die Menschen als eine unvermittelte retrograde Amnesie, scheinbar ausgelöst durch AI. Paradoxerweise soll gerade diese Technologie Heilung von dem seltsamen Syndrom bringen. Aber sind die bizarren Bilder überhaupt seine Erinnerungen?
Über dem unheilvollen Szenario, das sich mit elegischer Langsamkeit entfaltete, hängt die dumpfe Ahnung staatlicher Manipulation, eines undurchsichtigen Komplotts gestohlener Gedächtnisse und infiltrierter Identität. Doch die traumwandlerische Textur und surreale Ästhetik sind nicht verschwörungstheoretisch, sondern philosophisch. Mit dem Vergessen überfallen Einsamkeit und Leere die Betroffenen, die ohne Vergangenheit auch keine Zukunft haben und ihnen Nahestehende nicht erkennen. Ks einziger Kontakt ist der alte Ex-Sträfling Silvio (João Carlos Castanha); eine menschliche Alternative zu dem vorgeblich heilenden AI-Gerät, das einen destruktive Drang in K katalysiert.
Pretto Heimatstadt Porto Alegre ist erneut Schauplatz und autarker Charakter der düstere Dystopie, deren ökologisches Hintergrundthema auf schreckliche Weise von der Realität eingeholt wurde. Während der nur rund zweiwöchigen Dreharbeiten im Mai 2024 erlitt Porto Alegre die schwerste Flutkatastrophe in seiner Geschichte. Statt das Unglück auszublenden, integrierte der Regisseur es organisch in seine Inszenierung. Reale Flut-Aufnahmen und AI-Bilder schaffen eine beklemmend authentische apokalyptische Ästhetik, die dem Kernmotiv kognitiver und sozialpolitischer Dissonanz einen verstörenden Nachhall verleiht.
In sphärischen Szenen, deren dominierende Kontrastfarben von Feuerrot und Schwarz eine endzeitliche Aura heraufbeschwören, entwirft Davi Pretto die beunruhigende Vision einer Zukunft, in der die Grenzen zwischen künstlichen Halluzinationen und Träumen, konstruierten und realen Erinnerungen porös werden, erodiert künstliche Intelligenz schleichend die Psyche. Die Auflösung des Ich und Okkupation des Seins vollzieht sich parallele zur Verfestigung sozialer und materieller Hierarchien. Meditative Langsamkeit und zeitgeistige Tiefe machen die finstere Sci-Fi-Fabel mitunter erdrückend, doch sie bleibt im Gedächtnis – solange dieses noch existiert.
- OT: Futuro Futuro
- Director: Davi Pretto
- Year: 2025