Wenn in Irene Iborra Ricos ambitioniertem Animations-Drama das titelgebende Naturereignis eintritt, erschüttert es mit dem Leben der 12-jährigen Heldin auch die heile Kinderfilm-Welt. In jener existieren nahezu keine Figuren wie die aufgeweckte Olivia (Synchronsprecherin: Celia Sol), deren trügerisch stabiles Leben mit dem sozialen Straucheln ihrer kleinen Familie unvermittelt tiefe Risse bekommt. Die Naturkatastrophe wird zur magischen Metapher der seismischen psychologischen, materiellen und sozialstrukturellen Umbrüche eines ökonomischen Abstiegs. Die durch Kinderaugen gefilterte Perspektive darauf schwankt ebenfalls zwischen Realismus und lebensfernem Idealismus.
Zweiter zeigt sich bereits in Olivias spätem Begreifen der familiären Situation und deren abrupten Auftretens. Dass Zuhause bei ihrer phantasievollen Mutter Ingrid (Silvia Vilarrasa) und dem kleinen Bruder Tim (Hug Mont) Heizung und Strom abgedreht sind, ist für sie nur ein kleines Ärgernis. Aus der mittelständischen Mietwohnung in Barcelona geht es ohne Umwege über eine preiswertere Wohnlage direkt in einen schäbigen Sozialbau. Kaum dass sie sich unter den Nachbarkindern eingelebt hat, bringt ein Zusammenbruch ihrer Mutter einen neuen Schock und alarmiert das Jugendamt.
Dessen Drohung, die Kinder in ein Heim zu bringen, bestimmt das zweite Kapitel der auf Maite Carezzas Graphic Novel “La vie est un film” basierenden Handlung. Jene beginnt eindringlich als unspektakuläre Beobachtung der einschneidenden Veränderungen, vor denen Olivia Tim abzuschirmen versucht, indem sie alles als den Dreh eines Films darstellt. Doch der ernüchternde Blick auf die zermürbenden alltäglichen Kämpfe von Menschen aus der Unterschicht, das ambivalente Eingreifen von Behörden sowie die allseitige Verwundbarkeit ohne schützendes Sozialgefüge wird eine verklärte Vision gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Dieses irrationale Ideal mitmenschlicher Unterstützung wird zum Allheilmittel. Nach der Räumung steht die Sozialwohnung sofort bereit. Eine fürsorgliche Nachbarin bekocht und behütete Olivias Familie. Die anderen Kids im Haus werden im Handumdrehen zu Freund*innen. Wenn sich schließlich die halbe Stadt zusammenschließt, um den Abriss eines ranzigen Sozialbaus zu verhindern, verliert das Langfilm-Debüt der katalanischen Regisseurin endgültig die Bodenhaftung, die dem ersten Teil seine Kraft gibt. Der Statusverlust erscheint nicht mehr dauerhaft, sondern eine temporäre Krise, abgefedert durch ein fiktives soziales Sicherheitsnetz.
Das Film-im-Film-Konzept rahmt nicht nur Olivias Sichtweise, sondern definiert sie als Lenkerin des Geschehens. Diese vermeintliche Emanzipation – und eine Reihe dezenter Aspekte der Handlung – machen die von Armut Betroffenen verantwortlich für ihre prekäre Situation. Deren Realität scheint der Regisseurin und Drehbuchautorin gänzlich fremd. In dem drolligen Stop-Motion-Barcelona gibt es kein endloses Warten in Sozialbehörden, keine Gewalt, keine Status-Stigmatisierung, keinen Rassismus und schon gar keine klassistische Diskriminierung. Visuelle Kreativität, handgefertigtes Design und engagierter Synchron-Einsatz verleihen dem zutiefst zwiespältigen Familienfilm eine formale Qualität, die der Geschichte fehlen.
Der Sprung von preisgekrönten Kurzfilmen zum Langfilm offenbart die strukturellen und dramaturgischen Schwächen Irene Iborra Rizos animierten Kinderfilms. Der erste in Katalonien produzierte Stop-Motion-Spielfilm wagt sich an gleichermaßen herausfordernde und relevante Themen wie Wohnungsunsicherheit, Armut, elterliche Abwesenheit und kindliche Resilienz. So bedeutsam die Verarbeitung dieser Konflikte gerade für ein kindliches Kinopublikum ist, so enttäuschend ist deren euphemistische Verharmlosung. Die detaillierten Szenenbilder und Figuren spiegeln die narrative Verniedlichung der prekären Lage und zeigen das Leben am sozialen Rand als cooles Abenteuer.
- OT: L’Olívia i el terratrèmol invisible
- Director: Irene Iborra Rizo
- Year: 2025