Das Herz, sowohl als plastisches Organ als auch symbolische Quelle tiefer Gefühle steht im Zentrum Naomi Kawases transzendentalem Drama, das als späte Hinzufügung im Wettbewerb des Locarno Film Festivals seine Premiere feiert. Nach fünfjähriger Pause seit ihrer letzten Regiearbeit True Mothers kehrt die japanische Filmemacherin zurück mit einem feinfühligen Grenzgang zwischen japanischer Alltagswirklichkeit und romantischer Fiktion. Zwei scheinbar unverbundene Phänomene der japanischen Gesellschaft sind die thematischen Tragpfeiler einer gleichsam physischen und philosophischen Meditation darüber, was zurückbleibt, wenn geliebte Menschen plötzlich verschwinden.
Der eine dieser beiden Aspekte sind die sogenannten Johatsu, Menschen, die ohne eine Spur zu hinterlassen untertauchen, das andere die in Japan vorherrschende Skepsis und das Stigma von Organtransplantation. Dieser thematische Dualismus spiegelt sich in Struktur und Stil der sinnlichen Symbiose traumhafter Entrückung und dokumentarisch angelegten Etappen. Das menschliche Bindeglied zwischen ihnen ist eine anrührend spielende Vicky Krieps als Corry, eine in Kobe arbeitende französische Koordinatorin pädiatrischer Herztransplantationen. Ihren Arbeitsalltag mit den keinen Patient*innen in Kobe durchziehen Erinnerungen an Yakushima.
Dort traf Corry auf einer Reise vor einigen Jahren den jungen Fotografen Jin (Kanichiro), dessen emotionale Offenheit und freies Wesen sie sofort gefangen nehmen. Beider ätherische Romanze zerbricht, als Corrys mit Jins Unbeständigkeit nicht annehmen kann und er eines Tages ohne jede Vorwarnung fort ist. In der Gegenwart in Kobe begleiten ungleich nüchterne Szenen Corry in die ethisch und emotional aufgeladene Welt der Kindertransplantationen. Diese sind in Japan ein gesellschaftliches Tabu, um das medizinische Notwendigkeit und kulturelle Skepsis ein komplexes Spannungsfeld kreieren.
Diese gegenläufigen ahnen der Handlung berühren sich mehr als dass sie sich fest verschränken. Zwischen diesen narrativen Polen manifestiert sich als Kernthema der diffuse Raum zwischen Leben und Tod, Präsenz und Abwesenheit. Obwohl am Leben, können Johatsu für Tod erklärt werden. Umgekehrt werden Menschen auch nach dem Hirntod noch als lebendig betrachtet, solange ihr Herz schlägt. Mit ruhiger Intensität verkörpert Krieps die Protagonistin als eine allerorts Fremde, deren Schwebezustand den der Verstorbenen und Verschwundenen reflektiert: ein Geister-Dasein in einer Welt voller Ungewissheiten.
Verlust, Verschwinden und Verständnis auf persönlicher und kultureller Ebene ziehen sich als motivische Leitlinien durch Naomi Kawases sphärisches Drama. Dessen strukturelle Raffinesse und vielschichtige Symbolik bewegen sich nah am Kunsthandwerklichen, doch die überzeugenden Darstellungen und romantische Chemie Krieps und Kanichiro erden die melancholische Story. Von allegorischer Poesie durchtränkte Kamerabilder oszillieren zwischen Ornament und Essenz. Als formales Gegengewicht fungieren die an Kawases frühe Doku-Arbeiten anknüpfenden informativen Segmente. Sie erinnern nüchtern an die organische Funktionalität des Organs, in dem weder Liebe noch Lebensgeister wohnen.
- OT: Yakushima’s Illusion
- Director: Naomi Kawase
- Year: 2025