In entsättigten Bildern, deren symbolische Schwere und allegorische Naturszenen an animistische Mystik grenzen, begibt sich Ana Cristina Barragáns düsteres Familiendrama auf eine zarte, bedrückende Reise zu den verschlungenen Wurzeln von Mutter und Kind, Sehnsucht und Schmerz, Erinnerung und Verdrängung. Mit reduziertem Dialog und dafür umso beredterer Bildsprache erkundet die ecuadorianische Regisseurin eine psychische Topographie aus Reue, Zorn und diffusem Verlangen. Jenes entsteht zwischen der 31-jährigen Azucena (Simone Bucio) und 18-jährigen Julio (Francis Eddú Llumiquinga), der in ihr zurückgezogenes Leben tritt wie das Gespenst eines anderen Lebens.
In jener verlorenen Existenz, die nur einmal flüchtig in alten Videoaufnahmen lebendig wird, war die damals 13-jährige Protagonistin vielversprechende Kinderturnerin. Eine Schwangerschaft durch sexuellen Missbrauch in einem Land, das Abtreibung kategorisch kriminalisiert, setzte ihren Träumen ein brutales Ende. Der in einem christlichen Kinderheim aufgewachsene Julio weiß nichts von seiner Herkunft und seiner angeblich verstorbenen Mutter. Die täuschend jung aussehende Azucena nährt sich ihm und seiner Clique als eine vermeintlich gleichaltrige Kameradin. Zwischen ihnen entsteht eine intuitive Anziehung zwischen zärtlicher Fürsorge und desorientiertem Bedürfnis nach Körperlichkeit.
Letzte zielt nicht auf Tabu-Brüche oder Provokation, sondern verdeutlicht vielmehr die emotionale Ziellosigkeit zweier Menschen, die zwar physische Versorgung erfahren haben, aber nie elterliche Zuneigung. In den unaufdringlich eingefangenen Gesprächen und Gemeinschaften Julios Freundeskreises zeigt die bedachtsame Inszenierung, wie Sexualität zum einzigen bekannten Mittel wird, Anlehnungsbedürtigkeit und Zuwendung auszudrücken. Konsequent meidet das sensible Szenario jegliches Melodrama und sucht stattdessen die Stille. Azucenas Rückkehr wird zum vorsichtigen Versuch einer Annäherung; nicht nur an Julio, sondern ihr vergrabenes Trauma. Ihre ungelebte Kindheit überlappt mit Julios noch unfertiger Adoleszenz.
Beider Welt, erfüllt von jugendlicher Energie und dem Sehnen nach Zugehörigkeit, wird zur Bühne für Reibung und Wiedererkennen. Simone Bucio verkörpert Azucena mit faszinierender Zurückhaltung. Francis Eddú Llumiquinga zeigt Julio zwischen Misstrauen und Neugier, Abwehr und Faszination. Ödipale Untertöne sind spürbar, doch niemals sensationsheischende Andeutungen einer Kindheit voll verlorener Bindungen. Unterbewusste Erinnerungen drängen durch Nähe abrupt an die Oberfläche. Adrián Durazos klandestine Kamera beobachtet unsichere Körper, die in einer unruhigen Harmonie existieren. Metaphorische Naturmotive verweisen auf die archaischen Analogien im Hintergrund der ebenso fesselnden wie irritierenden Beziehungsstudie.
Nach Alba und La Piel Pulpo vertieft Ana Cristina Barragan ihre Auseinandersetzung mit verletzter Intimität und der sinnbildhaften Schönheit der Natur. Ihr intimes Drama, das in der Orizzonti Sektion der Filmfestspiele von Venedig Premiere feiert, legt die brüchige Architektur menschlicher Nähe offen. Suggestive Szenen schaffen einen hypnotischen Rhythmus, getragen von Blicken und Schweigen statt dramatischer Wendungen. Lange Einstellungen, zurückhaltender Schnitt und eine verwaschene Farbpalette erzeugen eine tranceartige Stimmung. Beunruhigende Andeutungen zeigen, wie Verlassenwerden Schatten wirft, und die Sehnsucht nach Wiederannäherung zugleich heilsam und gefährlich sein kann.
- OT: Hiedra
- Director: Ana Cristina Barragan
- Year: 2025