Der gleichsam ruhige und klarsichtige Blick, der Tamara Kotevskas oscarnominiertem Dokumentarfilm Honeyland seine elegische Kraft verlieh, ist ungebrochen in ihrer jüngsten Meditation über die fragile Beziehung von Zivilisation und Natur. Dennoch fungiert die poetische Erkundung von Einsamkeit und Verbundenheit, Verletzlichkeit und Widerstandskraft fast wie ein allegorisches Gegenstück zu Honeyland. Visuelle Pointen, zwischenmenschliche Wärme und eigenwilliges Charisma prägen die Geschichte der unwahrscheinlichen Freundschaft eines enteigneten Bauern und eines verwundeten Storchs. Darin liegt die zaghafte Hoffnung einer bedachtsamen Gemeinschaft des Menschen mit seinem Umfeld, tierisch und mitmenschlich.
Vor der weitläufigen ländlichen Kulisse Nordmazedoniens begleitet die zurückhaltende Kamera die kuriose Kameradschaft des alternden Bauern Nikola, der auf einer Mülldeponie einen Weißstorch mit gebrochenem Flügel. Aufnahmen verwesender Kadaver der prachtvollen Tiere, deren größte Kolonie in dem kleinen Dorf nistet, verweisen zugleich auf den Niedergang des strukturell zerfallenden Ortes und die Bedrohung der Storch-Population durch Umweltzerstörung. Nikola verarztet den Flügel, doch bis die Flugfähigkeit wiederhergestellt ist braucht es Zeit. Die kauzige Annäherung der beiden illustrieren Szenen von verschmitztem Witz und stillem Respekt. Der Soundtrack dient mal als dramatischer Akzent, mal als ironisches Gegengewicht.
Die anekdotische Episode erhält ihre emotionale Resonanz und dramatische Substanz durch die Einbettung in lokale Folklore auf der einen Seite und ökologische und sozialpolitische Bedingungen auf der anderen. Als märchenhafter Rahmen dient eine alte Sage von einem Jungen namens Sylvain, den ein Fluch seines Vaters in einen Storch verwandelt. Realistisches Gegengewicht dazu ist Nikolas Trennung von seiner Familie und der Umbruch der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse. Mut und Mitgefühl werden zum Rettungsanker, für den einsamen Protagonisten und den nach dem Sagen-Charakter benannten Vogel.
Kotevskas langjähriger Kameramann Jean Dakar fängt die melancholische Schönheit der nordmazedonischen Landschaft in lyrischen Bildern ein. Inmitten des dreckigen Alltags auf der Mülldeponie erscheinen die schneeweißen Störche wie Fremdkörper, obwohl es die menschengemachte Verschmutzung ist, die in ihr Revier eindringt. Die kraftvolle Anmut der Tiere wird zum universellen Symbol für ein Gleichgewicht zwischen Aufbruch und Ursprünglichkeit. Frei von Kitsch und Vermenschlichung betonen die sorgsam beobachteten Szenen Respekt und Vertrauen als Grundlage der spezies-übergreifenden Freundschaft: eine stille Gemeinschaft, die düstere Momente überbrückt.
Die Natur spricht ebenso ausdrucksvoll wie die Figuren in Tamara Kotevskas bittersüßer Erkundung von Einsamkeit, Resilienz und heilsamer Empathie. Als reales Pendant der sagenhaften Elemente offenbart die dokumentarische Handlung die Zeitlosigkeit familiären und ideellen Konflikte, die formen. Geduldige Kameraführung und unaufdringliche Observation erfassen die verborgenen Rhythmen gesellschaftlichen und ökologischen Miteinanders. Beiläufige Gespräche enthüllen subtil das gesellschaftliche Gefüge des provinziellen Schauplatzes. Natürliches Licht und stilistische Zurückhaltung schaffen eine bedachtsame Atmosphäre, die Brüche und Widersprüche nicht kaschiert, sondern als organisches Element des soziologischen Mikrokosmos hervorhebt.
- OT: The Tale of Sylvain
- Director: Tamara Kotevska
- Year: 2025