„Während sich das Rampenlicht auf die Filmfestspiele von Venedig richtet, laufen wir Gefahr, ein weiteres Großereignis zu erleben, das dieser menschlichen, zivilen und politischen Tragödie gleichgültig gegenübersteht. ‚Die Show muss weitergehen‘, wird uns gesagt, während wir aufgefordert werden, wegzuschauen – als hätte die ‚Filmwelt‘ nichts mit der ‚realen Welt‘ zu tun.“
Diese Worte aus einem offenen Brief, in dem Hunderte italienische und internationale Filmschaffende, Künstler*innen und Kulturschaffende die Filmfestspiele von Venedig auffordern, eine „klare und unmissverständliche Haltung“ gegen den Genozid und die ethnischen Säuberungen im Gazastreifen einzunehmen, machen es schwer, von den Stars und Kino-Highlights zu schreiben. Umso mehr, weil dieses Statement der unter dem Namen Venice4Palestine (V4P) organisierte Initiative an die Biennale di Venezia und ihre unabhängigen Sektionen in der Vergangenheit schon so oft zutraf. Gerade angesichts dessen klingt die offizielle Antwort der Biennale fast zynisch: Das Festival sei „im Laufe ihrer Geschichte stets Orte offener Diskussion und Sensibilität für die drängendsten Probleme der Gesellschaft und der Welt gewesen. Der Beweis dafür sind in erster Linie die Werke, die [auf dem Festival] präsentiert werden.“
Wohl wahr, die Filme sprechen eine klare Sprache. Nur verkündet die keineswegs zuverlässig eine ethische und humanistische Botschaft. Allein der Blick auf die jüngeren Ausgaben macht dies bedrückend deutlich. Die neo-faschistischen Tendenzen der italienischen Regierung wurden hingenommen. Die Mostra gab Woody Allen, Roman Polanski und Luc Bessson bereitwillig eine Bühne und wischte Proteste buchstäblich weg. Angesichts des russischen Überfalls der Ukraine wurde Anastasia Trofimovas verkapptes pro-russisches Propaganda-Werk Russians at War aufgeführt. Parallel dazu wurde die strategische Blockade Rusudan Glurjidzes historischen Dramas The Antique lange tatenlos geduldet. In diesem Jahr ist Kaouther Ben Hanias Drama The Voice of Hind Rajab über die Tötung eines 5-jährigen palästinischen Mädchens der einzige Film im Wettbewerb mit einem Bezug zum Genozid in Gaza, der auch in den Nebensektionen kaum auftaucht.
Stattdessen bleibt das älteste Filmfestival der Welt, das vom 27. August bis zum 6. September den roten Teppich auf dem Lido ausrollt, dem konservativen Kanon alter weißer cis männlicher Filmschaffender aus den gehobenen Klassen verschrieben. Das zeigt unmissverständlich ein Wettbewerb, in dem nur vier Regisseurinnen auftauchen, keine einzige Person of Color, geschweige denn aus der Unterschicht, und kein Werk vom afrikanischen Kontinent. Dafür gibt es Glamour in Gestalt von George Clooney, Adam Sandler und Laura Dern, die in Noah Baumbachs Hollywood-Satire Jay Kelly auftreten, Kathryn Bigelows rechtspopulistisches Action-Kino mit A House of Dynamite, Jim Jarmuschs Familientragikomödie Father Mother Sister Brother und Guillermo del Toros Gothic-Epos Frankenstein sowie der für ihr Lebenswerk ausgezeichnete Hollywood-Ikone Kim Novak, die zudem Protagonistin der persönlichen Doku Kim Novak‘s Vertigo ist.
Netflix ist mit gleich drei Wettbewerbsfilmen vertreten, was die zentrale Rolle der Streaming-Plattformen im internationalen Kinodiskurs erneut unterstreicht. Gut möglich, dass dies für mehr Diskussionsstoff sorgt als der Horror in Gaza. Die Diskussion verdeutlicht, wie stark sich die kulturelle Bühne von Venedig mit aktuellen globalen Krisen verschränkt – nicht nur obwohl, sondern gerade weil sie sich davon abzuschirmen versucht. Ob das Festival noch eine eindeutige Haltung zur politischen Realität zeigen wird, oder sich als „ein hohler Schaukasten“ bestätigt, wie es der von Filmgrößen wie Ken Loach, Alba und Alice Rohrwacher, Céline Sciamma, Charles Dance sowie die palästinensischen Regisseure Arab und Tarzan Nasser unterzeichnete Brief befürchtet, bleibt abzuwarten. „There is no cinema without humanity“, heißt es im Brief. Schön gesagt – aber traurigerweise womöglich zu idealistisch gedacht.