Eine spukhafte Stimmung unauflöslicher Ungewissheit und existenzielle Verunsicherung über das eigene Ich evozieren in Yanis Koussims expressives Langfilm-Debüt ein schwelendes Grauen, das länger und eindringlicher nachwirkt als laute Jump Scares. Ein von Trauma und Mystik durchzogenes Algerien wird zum suggestiven Schauplatz einer familiären Rückkehr, die sozialpsychologische Paranoia und spirituelle Desorientierung an die Oberfläche bringen. Gegenwart und Vergangenheit werden zu parabolischen Gegenpolen einer doppelbödigen Studie über Erinnerung, Vergessen und das Unaussprechliche. Die zweifache Zeitschiene funktioniert als Form der Verdopplung einer in wechselseitiger Dynamik verschlungenen Geschichte und Gegenwart.
In der ersten Handlungsebene in den frühen 90ern kehrt Ahmed (mit intuitiver Körpersprache gespielt von Ali Namous) nach einem schweren Autounfall zurück in sein Heimatdorf. Seine Amnesie und sein vollständig bandagiertes Gesicht lässt selbst seine Familie daran zweifeln, ob er wirklich der Mensch ist, der sie einst verließ. Ahmeds hingegen quält eine irrationale Furcht vor der Rückkehr der Erinnerung, die er seit dem Unfall verloren hat. Mysteriöse Besucher flüstern ihm allnächtlich ominöse Litaneien in fremder Sprache zu und sein angeblicher Jugendfreund erfüllt ihn mit instinktiver Abwehr.
Die Angst des Protagonisten vor dem Abklingen seines Gedächtnisverlusts und die Skepsis seiner Familie bezüglich seiner Person wirken konträr, entspringen jedoch der gleichen Verunsicherung über seine wahre Identität. In der zeitgenössischen Handlungsebene plagen einen altersschwachen Raqi (Mostefa Djadjam) Alzheimer und eine bizarre körperliche Auflösung. Ein Jünger (Akrfam Djeghim) beobachtet voller Sorge die mentale Schwächung des muslimischen Exorzisten, die ein uraltes Übel zu entfesseln scheint. Vergangenheit und Gegenwart spiegeln sich: Ahmeds Schweigen, seine Angst vor der Rückkehr des Gedächtnisses, wird zur Parallele der Alzheimer-Krankheit des Raqi.
Buchstäbliche Gesichtslosigkeit und kognitive Barrieren unterstreichen die zentralen Motive neurologischer und psychischer Desintegration. Alzheimer wird zur Metapher für eine geistige Besessenheit, die religiöse Rituale nicht bannen können. Beide Männer verlieren die Kontrolle über ihren Geist, was die scheinbar stabile Grenze zwischen Logik und Irrationalem auflöst. Diese hintersinnigen strukturellen Parallelen verdichten nicht nur das narrative Konstrukt, sondern dessen albtraumhafte Atmosphäre. Halbdunkle Innenräume, diffuses Flackerlicht und erdrückende Stille verstärken die oppressive Wirkung der gedeckten Farbpalette. Geisterhaftes Sounddesign, durchzogen von mystischem Munkeln und monotonen Liturgien, materialisieren Ahmeds psychisch zermürbenden Visionen.
Überbelichtete Nahaufnahmen seines bandagierten Gesichts betonen die Entfremdung seiner selbst und seiner Kinder. Kameramann Jean-Marie Delorme kontrastiert das gleißende Sonnenlicht über der algerischen Landschaft mit düsteren Innenräumen voll unheimlicher Schatten. Die Bildsprache fragmentiert Gesichter, lässt Räume unvollständig erscheinen, als würde der Gedächtnisschwund auch physische Strukturen auflösen. Der Kontrast zwischen der ländlichen Abgeschiedenheit der ersten Zeitebene und der städtischen Kulisse der Gegenwartshandlung implizieren eine sozialpolitische Dimension. Persönliches Trauma und kollektive Geschichte überlagern einander in einer reziproken Reflexion soziologischer Schauer, die Grauen erahnen lässt doch niemals zeigt.
Durch geschickten Einsatz klassischer Horror-Tropen schafft Yanis Koussim ein cineastisches Schattengespräch zwischen Erinnern und Vergessen, Aberglaube und Realität. Mit einem hintersinnigen Spielfilm-Debüt, das gängige Grusel-Motive phantasievoll in ein evokatives Setting integriert, etabliert sich der algerische Regisseur als spannende neue Stimme des nordafrikanischen Genre-Kinos. Kulturelle Schuld, familiäre Bedrohung und psychischer Verfall fungieren als thematische Bindeglieder einer stilistisch kontrollierten, atmosphärisch versierten Vision leiser Schrecken.
- OT: Roqia
- Director: Yanis Koussim
- Year: 2025