“Wir waren nicht clever. Wir waren elegant.”, statuiert der greise italienische Präsident (Toni Servillo) im Mittelpunkt Paolo Sorrentinos fiktiven Politiker-Porträts. Jenes ist ungeachtet aller real-biografischen Behauptung keineswegs ein lebensnahes Charakterbildnis eines Regierungsoberhaupts, das so tatsächlich existieren könnte, sondern vielmehr das grandiose Götterbild eines sterblichen Symbolträgers. Dessen strategische Verklärung gilt nicht allein seiner Person, sondern der quasi-monarchischen Machtform und der absoluten Autorität, die er repräsentiert. Gleich der barocken Malerei in den tempelartigen Staatsgebäuden, in denen sich die operatische Handlung entfaltet.
Beide sind als Schauplatz und Staffage der ideologischen Ikonographie ebenso bedeutsam wie deren Figuren. Jene sind abgesehen von zwei weiblichen Randfiguren ein patriarchalischer Pantheon, zeitgenössisches Ebenbild des antiken Senats. Die Frauen, die nicht ins Schema seiner jungen, üppigen Model-Musen passen, sind passive Anhängsel. De Santis Tochter Dorotea (Anna Ferzetti) ist eine mausige Sekretärin, seine Klatsch-Kolumnistin Kameradin Coco (Milvia Marigliano) ein exzentrischer Hofnarr. Allesamt sind sie ein Mikrokosmos totalitären Elitarismus: materiell, strukturell, sozial, finanziell, akademisch. Sie zu verklären der eigentliche Zweck des dramaturgisch und inhaltlich belanglosen Plots.
Der beklagt das altersbedingte Abtreten dieses repräsentativen Reaktionismus beklagt Sorrentino als melancholischen Verlust einer Idealgewalt. Der stoische Hauptcharakter Mariano De Santis erscheint gebildet, gemessen und gottgläubig. Als studierter Meisterjurist verkörpert er das Gesetz, statt es nur zu erlassen. Das betonen zwei exemplarische Entscheidungsfragen, die der “Presidente” vor seinem Ruhestand abwägen muss. Sein Entschluss über zwei Begnadigungsgesuche, deren Hintergrund nie konkretisiert wird, sowie eine Gesetzesnovelle für Sterbehilfe erscheint als salomonische Entscheidung, über jede Kritik erhaben. De Santis christlich-konservative Politik wird vom rechten Rand zur weisen Mitte erhoben.
Maßgeschneiderte Anzüge, gedeckte Farben und präzise Raffinesse unterstreichen die maßgeschneiderte Eleganz des Präsidenten, dem modische Kapricen fremd sind. Ganz Pflichtbewusstsein, vermeintlich volksnah und rational, ist er nur Gast in den prunkvollen Palästen. Die zum Exzess tendierende Dekadenz seiner letzten Werke kontrastiert Sorrentino mit unterkühlter Gediegenheit als Marker moralischer Integrität und inneren Reichtums. Der mehrdeutige Titel bezeichnet ebenso die Begnadigung im juristischen Rahmen, vor allem jedoch die Idee einer Staatsgewalt von Gottes Gnaden, die Männern der Macht – bei Sorrentino immer und ausschließlich Männer – Absolution erteilt.
In seinem jüngsten und dabei in seiner manierierten Megalomanie enorm altbackenen Werk zelebriert Paolo Sorrentino einmal mehr die Standard-Requisiten seines Schaffens. Edel gekleidete Männer der Macht, klassische Bauten, klerikale Rituale und museale Gemälde als Insignien des Anspruchs auf eine eurozentrische Kulturhoheit, sein routinierter Stammschauspieler Toni Servillo in der Hauptrolle und einen Soundtrack, in dem symphonische Kompositionen und Italo-Rap einander ablösen. Nicht zuletzt meint die allseits evozierte Grazie auch Sorrentinos als deren begnadeter Bildhauer, der Patriarchat, Elitarismus, Lobbyismus, Nationalismus, Chauvinismus, Klerikalismus und eisernen Hierarchien verewigt. Das alles ist ebenso dumpf wie ästhetisch geschliffene: nicht clever, aber elegant.
- OT: La Grazia
- Director: Paolo Sorrentino
- Year: 2025