Mit seiner semantischen Komplexität verweist der Titel Yorgos Lanthimos jüngster Gesellschaftsgroteske, über deren wahnwitzige Wendungen eine genaue Genre-Zurdnung fast schon zu viel verraten würde, nicht nur auf die thematische Vielseitigkeit der Story. Der Begriff aus der antiken Literatur verrät unfreiwillig auch das verschenkte Potenzial des Stoffs und den arrivierten Akademismus eines Regisseurs, der weniger ein abgerundetes Kinowerk liefert als eine filmische Fingerübung. Als solche bietet der vom charakteristischen sardonischen Humor des Paten der Greek Weird Wave durchzogene Beitrag zum Wettbewerb von Venedig nichtsdestotrotz ausreichend Aberwitz und Abgründe.
Letzte öffnen sich wie in seinem rückbesinnlichen letzten Werk Kinds of Kindness an den soziologischen Sollbruchstellen der Gesellschaft. Deren strukturelle und systemische Gegensätze verkörpern die Antagonisten des perfiden Plots, der auf das narrative Grundgerüst eines Psycho-Krimis baut. Der fanatische Verschwörungstheoretiker Teddy (grandios durchgeknallt: Jesse Plemons) entführt mit der Unterstützung seines geistig beeinträchtigten Cousins (Aidan Delbis) die einflussreiche Konzernchefin Michelle (Emma Stone). Die erfolgreiche, hochgebildete, makellos gestylte und trainierte Karrierefrau ist das absolute Gegenteil der verwahrlosten White Trash Typen, die sie für die Abgesandte die Menschheit kontrollierender Aliens halten.
Wie so oft in Lanthimos soziologischen Schreckens-Szenarien sind beide Parteien wenig sympathisch. Teddy ist der Inbegriff des frustrierten weißen Mannes aus der Unterschicht, der sich um seine Privilegien betrogen fühlt, und in ein verschwörungstheoretisches Rabbit Hole gebuddelt hat. Michelle ist die eiskalte Pharma-Cheffin, die Diversität und offene Arbeitskultur als Marketing-Strategie betreibt, und gefährliche Medikamente auf den Markt wirft. Dass Teddys Mutter (Alicia Silverstone) – und anscheinend zahlreiche andere Testkandidat*innen – beim Testlauf eines solchen Medikaments dauerhaft geschädigt wurden, ist indes nicht beider einzige Verbindung.
Allerdings spielt die doppelbödige Handlung weniger mit ideologisch belasteten Stereotypen und Genrekonventionen als Lanthimos kreativem Ruf und der daran geknüpften Erwartungshaltungen. Die machen es von Anfang an denkbar, dass Michelle tatsächlich ein Alien sein könnte, und Lanthimos sich diesen Twist bis zum Schluss aufspart. Umgekehrt ist es ebenso möglich, dass Lanthimos diese Erwartung des Unerwarteten antizipiert und unterwandert, indem er die Geschichte als gradlinigen Entführungskrimi inszeniert. Diese „Tut er‘s oder tut er‘s nicht“-Frage verdrängt streckenweise die psychologische Spannung und gezielt ideologisch vage Sozialkritik.
Unterstützt von einer gewohnt großartigen Riege Stammdarstellender lädt Yorgos Lanthimos das Publikum seiner sarkastischen Sozialsatire zur dramaturgischen Spekulation über Entwicklung und Ausgang seiner jüngsten Story. Jene wirkt formal und konzeptionell wie eine weitere der Episoden, die sein vorangehender Film aneinander reihte. Trügerische Banalität, das Absurde im Alltäglichen und der Wahnsinn hinter der Maske der Normalität bleiben die thematischen Fixpunkte des Regisseurs. Surrealismus und Science-Fiction durchbrechen die Handlungsrealität allerdings nur punktuell und subjektiv relativiert. Das ungleich realistische Grauen liegt in den irren Überzeugungen und kapitalistischer Kalkulation, die in ihren unethischen Konsequenzen spiegeln.
- OT: Bugonia
- Director: Yorgos Lanthimos
- Year: 2025