Historische Momentaufnahmen, persönliche Erinnerungen und universelle Themen von Generationentrauma, Gewalt und Gemeinschaft fügt Shu Qi zu einem sensiblen filmischen Poem über Selbstbehauptung und die Unfähigkeit dazu. Die Premiere im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig markiert einen selbstbewussten Schritt der bisher als Schauspielerin vor der Kamera aktiven Regisseurin und Drehbuchautorin, die Zeitkolorit und autobiografische Spuren in ein eindringliches Coming-of-Age-Drama verwebt. Das Taiwan der späten 80er Jahre ist darin sowohl atmosphärisch dichter Hintergrund als auch sozialpolitischer Spiegel individueller Entwicklungen.
In deren Mittelpunkt steht die junge Hsiao-lee (anrührend: Bai Xiao-Ying), die mit ihrer jüngeren Schwester (Lai Yu-Fei) und der desillusionierten Mutter Chuan (Popstar 9m88 in einem beeindruckenden Debüt) in einem Haushalt geprägt emotionaler Kulte und ehelicher Gewalt. Chuans zweiter Ehemann Chiang (Roy Chiu) terrorisiert sie allabendlich, wenn er betrunken auf dem Motorrad von seiner Arbeit in einer Autowerkstatt zurückkehrt. Auch wenn seine Aggressionsausbrüche sich nicht direkt gegen die Mädchen entladen, verfolgen sie Hsiao-lee in lebhaften Alpträumen.
Diese mit Elementen des Genre-Kinos spielenden Visionen geben verstörende Einblicke in die dunkle Gedankenwelt der verschlossenen Protagonistin. Deren kindliche Erscheinung versteckt bedrückend erwachsene Sorgen und Impulse, die so unvermittelt in trügerisch unbeschwerte Momente einbrechen wie die häusliche Gewalt in scheinbar harmonische Tage. Die Begegnung mit der lebhaften Li-li (Lin Pin-Tung), deren rebellisches Wesen Hsiao-lee zugleich fasziniert und einschüchtert, eröffnet ihr einen Fluchtpunkt aus dem freudlosen Alltag. Mit der gerade aus den USA zurückgekehrten neuen Freundin wagt sie ein zaghaftes Aufbegehren gegen scheinbar unabänderliche Zustände.
Diese ersten Widerstände kontrastieren mit dem apathischen Fatalismus Chuans, die ihre eigenen Traumata und Duldungsmentalität unterschwellig an ihre Tochter weitergibt. Die toxischen Auswirkungen internalisierter Passivität durchdringen die diffizile Beziehung zwischen der jungen Heldin und ihrer Mutter. Nicht zufällig entfaltet sich die Ereignisse in einer Ära politischen Aufbruchs. Peking hatte seinen Herrschaftsanspruch über den Inselstaat aufgegeben und ein neues Staatsoberhaupt versprach demokratischen Wandel. Die bittere Ernüchterung dieser Ideale fungiert als strukturelle Parallele des langen und manchmal vergeblichen Ringens der Protagonistinnen um Freiheit.
Zwischen engen Familienstrukturen, fehlender Liebe und der fernen Ahnung möglicher Ungebundenheit erzählt Shu Qi in impressionistischen Bildern und sensiblen Einblicken von schmerzlichem Erwachsenwerden. Die narrative Struktur entspinnt sich unaufdringlich, dafür umso tiefsinniger. Schemenhafte Alltagsszenen, isoliert in intensiven Farbflächen, vermitteln die psychische Entfremdung der jugendlichen Hauptfigur von ihrer Umgebung. Mit ihrer formativen Freundschaft klärt sich das visuelle Spektrum zu einem bestehend detaillierten Zeitpanorama; ein fast semi-dokumentarischer Blick, unaufdringlich und durchdringend. Schauspielstark, visuell stimmig und emotional authentisch, gelingt ein Regiedebüt von seltener Reife.
- OT: Nühai
- Director: Shu Qi
- Year: 2025