Nach einer Reihe süßlicher Familien-Märchen scheint die Zeit mehr als reif für einen thematischen Umschwung zu einer zornig-düsteren Rache-Saga. Was Mamoru Hosoda mit seinem jüngsten Werk, das im Wettbewerb von Venedig außer Konkurrenz debütiert, vorlegt, will allerdings noch eine ganze Menge mehr sein als eine epische Fabel von Verrat, Vergeltung und Vergebung. Vorrangig eine animierte Adaption von Shakespeares “Hamlet”, dessen narrative Strukturen und Figuren neben direkten namentlichen Bezügen in der verschlungenen Story omnipräsent sind. Der Dänen-Prinz ist nun die kriegerische Titelheldin (Stimme: Mana Ashida), die nach der unrechtmäßigen Hinrichtung ihres Vaters Amleth (Masachika Ichimura) auf Rache sinnt.
Erschwert wird dieses Vorhabend dadurch, dass Prinzessin Scarlet selbst Opfer eines Giftanschlags wurde und nun in einem Zwischenreich namens Otherlands von Leben und endgültige Auslöschung gefangen ist. In diesem Raum und Zeit überbrückenden Purgatorium trifft sie auf andere Verstorbene verschiedener Epochen und Erdteile, die ebenfalls ihren Tod nicht begreifen oder hinnehmen können. Einer davon ist Hijiri (Masaki Okada), einen Krankenpfleger aus dem gegenwärtigen Japan, dessen Altruismus und Pazifismus in scharfem Gegensatz zu Scarlets hasserfüllter Rache steht. Gemeinsam begeben sie sich auf eine gefahrvolle Reise, die sie beide tief verändert – und einige Hintergrund- und Logikfragen aufwirft.
Strukturell, dialogisch und nominal schwankt das Szenario zwischen Verfremdung, direkten Zitaten und kuriosen Verweisen. Letzte wirken öfter komisch als clever. So heißt Scarlets Onkel (Kôji Yakusho) werkgetreu Claudius, ihr Vater allerdings Amleth. Diese Namens-Spielerei wird unfreiwillig Sinnbild dramaturgischer Veränderungen, die nichts besser und oftmals wenig Sinn machen. Existenzialistische Debatten verwässern die zeitlosen Urmotive, ohne psychologische oder dramatische Substanz hinzuzufügen. Scralets Feldzug ist angesichts ihrer unmittelbaren Bedrohung, ausweglosen Lage und familiären Verluste durchaus rational. Anders Hijiris bedingungslose Aufopferung oder die Ermahnungen eines ebenfalls in den Otherlands gefangenen kleinen Mädchens zu verantwortungsvoller Macht – die Scralet längst anstrebt.
Diese argumentative Unausgegorenheit und moralische Simplifizierung überträgt sich auch auf die Charaktere. Jene sind in erster Linie Verkörperung moralisch verhandelter Motive statt schlüssig ausgearbeitete Persönlichkeiten. Ungleich kraftvoller und klarer ist die visuelle Ebene. Infernalische Jenseits-Visionen treffen auf expressionistische Farbintensität und phantastische Landschaften. Düstere Mittelalter-Bauten, endlose Wüsteneien und danteske Höllenbilder verschmelzen zu einem atmosphärisch dichten Panorama. Dessen überwältigender Detailreichtum und präzise Ausarbeitung kulminieren in fulminanten Kämpfen und alptraumhaften Action-Schüben. Nur selten lockern humoristische Momente die zwischen Bedrohung und Tragik changierende Grundstimmung, die den brutalen Handlungskontext und die übergreifende Todes-Thematik umso intensiver wirken lässt.
In radikaler Abkehr von seinen warmherzigen Geschichten von Familie und Freundschaft entfesselt Mamoro Hosoda ein metaphysisches Mittelalter-Spektakel voller realer und surrealer Schreckensmomente. Ein in expressiven Farben schillerndes Fantasy-Fegefeuer wird zur Bühne einer optisch berauschenden Shakespeare-Interpretation, deren Figuren zwischen Sein und Leere, Determinismus und Idealismus ihren Weg suchen. Makelloses Sounddesign und ein kompetenter Voice-Cast verdecken indes nicht die psychologischen und dramaturgischen Unstimmigkeiten. Shakespeares differenzierte Infragestellung des Rachegedanken ersetzt eine ungleich oberflächliche und eindimensionale Kritik an Vergeltung. Somit fasziniert die Komposition westlicher Tragödientradition und japanischer Animations-Kunst vor allem als ästhetischer Wendepunkt des Anime-Auteurs.
- OT: Hateshinaki Scarlet
- Director: Mamoro Hosoda
- Year: 2025