Simin ist schuld. Hätte die junge Iranerin (Leila Hatami) nicht die Trennung von ihrem Ehemann Nader (Peyman Moadi) gefordert, hätte er für seinen an Alzheimer erkrankten Vater Ali-Asghar Shahbazi) keine Pflegerin einstellen müssen. Dann wäre es nicht zum Streit zwischen Razieh (Sareh Bayat) und Nader gekommen und die Mutter der kleinen Somayeh (Kimia Hosseini) und ihr Mann Hodyat (Shahab Hosseini) hätten nicht Anzeige erstattet. Die Anklage lautet Mord an dem Baby, das Razieh verloren hat. „Es ist deine Schuld“, sagt die elfjährige Tochter Termeh (Sarina Farhadi).
Nader ist schuld. Würde er ausreisen mit Simin, die in wochenlanger Prozedur die Visa beantragt hat, die nun in 40 Tagen ablaufen, wäre die Scheidung nicht nötig. Aber er musste unbedingt bei seinem senilen Vater bleiben und handgreiflich werden gegen Razieh, die er beschuldigt, Geld gestohlen zu haben. Obwohl er mitbekommen haben müsste, dass sie schwanger ist. Selbst als Simin vor Gericht Naders Kaution stellt und einwilligt, Razieh und Hoydat eine Entschädigung auszuzahlen, verweigert er das erforderliche Schuldeingeständnis. „Sie wollte hierher zurückkehren“, erfährt er über Simin.
Hoydat ist schuld. Seit Wochen arbeitet er nicht, so dass Razieh trotz Schwangerschaft gezwungen ist, Geld zu verdienen. Er ist depressiv und hat sich kaum noch unter Kontrolle. Seiner überforderten Frau gegenüber ist der religiöse Fundamentalist so ausfallend, dass sie um sich und Töchterchen Somayeh fürchtet. Von den streitenden Eltern hat das Mädchen ein Bild gemalt. Darüber sprechen will sie nicht. Womöglich hat der aggressive Hoydat mit der Fehlgeburt zu tun und will sich für das Verbrechen Blutgeld zahlen lassen, um seine Geldsorgen zu lösen.
Razieh ist schuld. Kein Wort sagt sie Nader von ihrer Schwangerschaft, die sie unter dem Tschador versteckt. Warum arbeitet sie überhaupt ohne die Erlaubnis ihres Mannes? Schon mit der Sorge für Somayeh ist sie überfordert. Naders schwachen Vater fesselt sie ans Bett und verriegelt die Tür, um während ihrer Arbeitszeit zum Arzt zu gehen. Welchen Eingriff ließ sie dort durchführen? Nun soll Nader dafür zahlen, obwohl Zeugenaussagen vor der Polizei bestätigen, dass sie dessen Angriff erfunden hat.
Alle haben schuld auf sich geladen in Asghar Farhadis nuanciertem Drama, das zugleich Parabel tiefgreifender gesellschaftlicher Zerrissenheit ist. Sogar Termeh, die vor allen anderen die bruchstückhaft enthüllte Wahrheit ahnt, verschwört sich am Ende. Das verschlossene Mädchen ist der reifste Charakter und stille Beobachterin der qualvollen Wendungen, die sich vor ihren Augen abspielen. Das vielschichtige Figurenstück, dem im Produktionsland das Verbot drohte, ist auch die Geschichte Termehs seelischen Zerbrechens. Sozialdrama, Kriminalfall und Beziehungstragödie verknüpft der iranische Regisseur zu einem systemkritischen Porträt der iranischen Gesellschaft. Soziale und persönliche Zwänge verknüpfen sich zu Fallstricken, denen die Protagonisten unmöglich ausweichen können. Jeder der komplexen Charaktere ist gefangen im eigenen Käfig religiöser, emotionaler oder materieller Abhängigkeit
Sie hätten keine triftigen Gründe für eine Scheidung, sagt zu Beginn ein Richter dem Paar, dass nicht Streit entzweit, sondern unterschiedliche Zukunftsvorstellungen. Simin will ihre Tochter nicht im Iran aufwachsen lassen, Nader seinen kranken Vater nicht zurücklassen. Ihre Lebenswege symbolisieren konträre Strömungen der iranischen Gesellschaft. Simin vertritt eine junge, weltoffene Moderne. Nader steht für bedachtsames Traditionsbewusstsein und kulturelle Verwurzelung. Beide Wege zeigt das zurückgenommene Meisterwerk gleichsam verständnisvoll und erstrebenswert. Die Entscheidung, welcher der Richtige ist, kann der Plot nicht fällen. Einzig beider Unvereinbarkeit ist bittere Gewissheit.
- OT: Jodaeiye Nader az Simin
- Regie: Asghar Farhadi
- Drehbuch: Asghar Farhadi
- Produktionsland: Iran
- Jahr: 2011
- Laufzeit: 123 Min.
- Cast: Sareh Bayat, Sarina Farhadi, Leila Hatami, Kimia Hosseini, Shahab Hosseini, Babak Karimi, Peyman Moaadi
- Kinostart: 14.07.2011
- Beitragsbild © Berlinale