Kaspar ist immer dabei. Wenn seine Mutter Natalya Sokol Spielzeug und Kleidung für ihn aus dem Müll kramt, wenn ein Ladenbesitzer gegen sie und Kaspars Vater Oleg Vorotnikov handgreiflich wird, weil Sokol Essen klaut, bei den Protestaktionen der Eltern, die sich als Künstlergruppe Voina nennen, und auch, wenn die russische Polizei die schäbige Wohnung der Eltern stürmt und alle verhaftet. Kaspar ist etwa ein Jahr alt und wird vom Nebenprotagonisten fast unwillkürlich zum Fokus der Kamera und Aufmerksamkeit Andrey Gryazevs. Der Regisseur begleitet in seiner Guerilla-Doku die Gruppe auf ihren Aktionen gegen das autoritäre Staatssystem, in ihre ärmliche Unterkunft und vor Gericht, von wo Vorotnikov schließlich ins Gefängnis wandert. Für sein erstes abendfüllendes Filmprojekt wurde Gryazev selbst vorübergehend Teil von Voina, wenn nicht als offizielles Mitglied so augenscheinlich zumindest als Maskottchen.
Das filmt die Unternehmungen, bei denen die Klingel von Valdimir Putins Büro mit Kaugummi zukleben oder mit einem selbstgebauten Schneidevehikel Propagandabanner für eine Militärfeier attackieren. Dergleichen Streiche ernstzunehmen fiele schwer, wäre da nicht das brutale Durchgreifend er Polizei und Kaspar. Ob die Eltern ihr Kind so kalkuliert einsetzen, wie jede Aufnahme der praktisch ohne Budget realisierten Doku wirkt, oder sich der selbst ausgerufenen Revolution mehr verpflichtet fühlen als ihrem Kind oder aber sich dieser Revolution gerade wegen ihres Kindes verpflichtet fühlen, bleibt unklar. Verschwommen wirkt auch Voinas Selbstverständnis. Moskaus ehemaliger Bürgermeister Yury Luzhkov hat keine Hemmungen, Mitglieder als „Nazi“ zu bezeichnen. Sokol spricht von ihnen einmal als Dezembristen. Die Wortwahl steht in seltsamen Kontrast zum Anti-Establishment-Gestus der Formation.
Wissen die überhaupt, was Dezembristen sind? Kaspar weiß es wohl kaum, obwohl seine Eltern ihm fleißig das Umschubsen von Polizeiautos vormachen. Das Video der “Palast-Aktion“ inszeniert Kaspars Spielzeugball als Initiator. Und plötzlich macht es klick. Erst Handschellen, dann die Gefängnistür und auf YouTube, wo unter dem Clip steht: „Help the children, help the country! Turn the whole System upside down – or vice versa!“ Sogar Kbanksy fordert die Freilassung der Voina-Mitglieder, von denen es einmal heißt: „Es gibt einen Unterschied zwischen Aktionen und lausiger Kreativität. Es heißt, jemand sei kreativ, wenn er sich in Plastikfolie wickelt oder so. Das ist nicht das, was wir machen.“ Aber was konkret machen sie? Diese Frage beantworten weder der Film, noch seine Protagonisten. Mittlerweile hat die Zeit das für sie übernommen: Nichts.
- OT: Zavtra
- Regie: Andrei Gryazev
- Drehbuch: Andrei Gryazev
- Produktionsland: Russland
- Jahr: 2012
- Laufzeit: 90 min.
- Cast: Oleg Vorotnikov, Natalya Sokol, Kaspar Sokol
- Beitragsbild © Berlinale