Wichtiger als das Ergebnis sei, was während dieses Prozesses passiere, sagt eine der Figuren der präzise inszenierten Politfarce, die Maria Ramos enthüllt. Die brasilianische Dokumentarfilmerin ist lediglich die Kompilatorin des institutionellen Theaters, dessen Unmittelbarkeit von der ersten Minute an fesselt. Regie führten die parteilichen Strippenzieher, die den spektakulären Fall der unerschütterlichen Hauptprotagonistin orchestrierten. Brasiliens erste Präsidentin Dilma Rousseff sah sich nach fünfjähriger Amtszeit im Zentrum einer juristischen Scharade, die sie in zwei wohlgeplanten Schritten aus ihrer staatlichen Führungsposition entfernte. Der sogenannte kalte Putsch geschah 2016 unter den Augen der Weltöffentlichkeit, die sich desinteressiert einem anderen Kräfteringen zuwandte: der Olympiade. Die Nüchternheit von Ramos‘ detaillierter Chronik steht im bizarren Kontrast zur kalkulierten Melodramatik der involvierten Staatsleute und Richter.
Wahrheitsschwüre und patriotischen Gesten werden mit erhobener Faust oder Tränen in den Augen verkündet. Nur Rousseff bleibt gefasst, was die populistische Pressefraktion sogleich gegen sie auslegt. Das alte Schema, das Rousseff längst erkannt hat und in dem sie nicht gewinnen kann: beherrschte Politikerinnen sind kaltherzig; emotionale Politikerinnen sind hysterisch. Keine Geste oder Miene entgeht Ramos, die direkt am Puls des Putschs ist. Vor dem Parlament, wo Anhänger beider Lager mit Schildern und Trillerpfeifen ihre Favoriten anfeuern, und drinnen, wo es entschieden lauter und unbeherrschter zugeht. Alles kloppt und drängelt mit der kindischen Wut, mit der korpulente ältere Herren in unbequemen Anzügen eine Schlägerei anzuzetteln versuchen. Jemand verkündet, Flaggen seien nicht gestattet, aber das wirkt reichlich hilflos.
Vielen weht ihre Meinung auf Stoff gedruckt wie ein Umhang um die Schultern. Staatsparkett und Gerichtssaal werden zur Bühne pathetischer Vorführungen, deren Aberwitz die Realität aushebelt. Die von der Warte der Verteidigung aus beobachtete Amtsenthebung ist eine Posse auf die Demokratie. Brasiliens zukünftiges Staatsoberhaupt Michel Temer und dessen Clique haben die Rollen klar verteilt. Auch die Richter haben ihre Parts einstudiert. Die Verhandlung ist eine reine Formsache, um etwas Ungesetzliches legitim erscheinen zu lassen. Beweise für die korrupten Machenschaften und selbst Tonzeichnungen verschwörerischer Absprachen können das vorgefasste Urteil nicht abwenden. Verzögern kann es nur ein technischer Defekt: „Die Sitzung wird für fünf Minuten unterbrochen, um die Klingel auszutauschen. Sie ist dieses historischen Momentes nicht würdig.“
In ihrer packenden Observation zeigt die Regisseurin eine Staatskrise aus nächster Nähe zu den Beteiligten. Die Abwesenheit eines Kommentars und sogar von Personen- und Ortsidentifikationen machen ihre scharfsichtige Bestandsaufnahme zur Herausforderung, doch gehorcht konsequent Ramos Neutralitätsgrundsatz. Das konzentrierte Protokoll ist zugleich fesselnder Politkrimi und bittere Abrechnung mit einem Demokratiekonstrukt, an dessen Grundfesten nicht nur in Brasilien beständig gesägt. Ein Kommentar an die junge Generation wird da zum zynischen Hohn: „In der Politik geht es darum, anderen Gutes zu tun.“
- OT: O processo
- Regie: Maria Augusta Ramos
- Drehbuch: Maria Augusta Ramos
- Produktionsland: Brasilien, Deutschland, Niederlande
- Jahr: 2018
- Laufzeit: 137 min.
- Beitragsbild © Berlinale