„Wenn ich früher nach Hause kam, hatte meine Mutter immer mein Lieblingsessen vorbereitet“, beginnt David seine zärtlich-schmerzliche Menschenporträts. Wenn er nun nach Hause kommt, ist seine Mutter beunruhigend antriebslos und desorientiert. „Irgendwann fielen mir all die Merkzettel meiner Mutter auf“, erzählt der erwachsene Sohn der 74-jährigen Gretel. Ihr Ehemann Malte pflegt nach der Pensionierung als Professor nun sie statt sein mathematisches Hobby. Um dem Vater einen Entlastungsurlaub zu ermöglichen, übernimmt David zeitweise die fordernde Aufgabe und mit ihr die des Erzählers, Regisseurs und Protagonisten seiner sensiblen Chronik über die Unbeständigkeit der Erinnerung.
Die aus dem Titel sprechende Bitte Vergiss mein nicht bleibt vergebens. Muss es bleiben, denn die Diagnose ist endgültig. Alzheimer. Seine Symptome zeigen bereits Familienfilme, die vor der Idee zu der cineastischen Abschiedsdokumentation entstanden. Damals feierte Gretel Sievekings Jüngster sein Kinodebüt David wants to fly. Seinen dritten Langfilm beschäftigt ein ungleich intimeres und schwierigeres Sujet: seine demente Mutter, deren Wechsel von Fürsorglichkeit zu Fürsorgebedürftigkeit wenige anekdotische Sätze beschreiben. „Zum Nachtisch gab´s Milchreis-Auflauf“, erinnert sich David. Gretel erinnert sich nicht. Darum gab´s plötzlich zu Heiligabend nur Suppe und zuletzt füttern die Kinder und Enkel die Hauptfigur. In seiner Familie sei er das Nesthäckchen, sagt der Filmemacher, dessen Worte bei der Ankunft im malerischen Familienheim in Bad Homburg schon Nostalgie sind. Nesthäckchen ist jetzt Gretel, um die er sich erst mit Malte, dann allein kümmert. Das Familienleben, das sich unter veränderten Vorzeichen teils weiter, teils neu entwickelt, entfaltet sich auf der Leinwand in einer Folge fein beobachteter Alltagsszenen.
Bemerkenswert machen sie inszenatorisches Gespür für zwischenmenschliche Momente und liebevoller Humor. Er kommt meist von Seiten Gretels, die ihren Geistesverlust beklemmend in Worte fasst. „Können wir irgendwo hingehen, wo wir nicht sterben?“, fragt sie ihren Sohn, der sie in das einst regelmäßig besuchte Schwimmbad mitgenommen hat. Nein, können sie nicht. Der Tod wartet überall, unerbittlich und geduldig. Zweites ist vielleicht das Schlimmere. Dies fühlen alle Angehörigen, doch auszusprechen wagt es bezeichnenderweise erst Maltes 94-jährige Mutter. Sie hinterfragt den Sinn des persönlichen Opfers, das er als eine Art späte Wiedergutmachung andeutet, wenn er sagt: „Es ist Nachspielzeit. Da kann man ja nochmal ein Tor schießen.“ Unaufdringlich weicht das Vergessen aus dem Handlungsfokus und schafft Raum für das Erinnern. An Distanz und Eifersucht in der offenen Ehe der Eltern sowie Gretels sozialistische Überzeugung, ihr politisches und soziales Engagement, ihre Tatkraft, Autarkie und Geistesgegenwart. Gerade an jenen typischen Eigenschaften fehlt es ihr nun am stärksten. Was den Charakter der Protagonistin ausmachte, verschluckt das unaufhaltsame Grau der Demenz.
Es erlaubt immer weniger klare Unterscheidungen zwischen daheim oder woanders, Gatte und Sohn, Gegenwart und Vergangenheit. Das Ineinanderfließen letzter hinterlässt einzig die verbindenden Emotionen. Viele davon äußert Gretel zum ersten mal gegenüber David und Malte, den die affektive Seite der von jeher nüchternen Partnerin überrascht und berührt. An welcher verborgenen Gefühlsaufstauung enthüllt die Kamera nicht, doch dies wäre ohnehin ein zu forsches Vordringen in die Privatsphäre des Paares. Deutlich wird die filmisch und psychologisch entscheidende Wirken des seelischen Dammbruchs. Der Ausdruck von Gefühlen in unumwundenen Sätzen und Gesten schenkt den Angehörigen neben Trost zuvor unbekannte familiäre Nähe. Eine Versöhnung ist auch dort möglich, wo nie eine direkte Entzweiung stattfand. Dies ist die aufmunternde Erkenntnis, die das behutsame Porträt einer verblassenden Persönlichkeit ohne aufgesetzte Sentimentalität vermittelt.
Dass Vergiss mein nicht keine „traurige Alzheimer-Tragödie, sondern eine heitere Liebesgeschichte“ wurde, sagt Sieveking, sei für ihn das große Wunder. Letztes ist auch, dass es keinen Film über eine Krankheit gibt – sondern einen Film über eine Familie.
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