„Spinner gibt es überall“, wusste Papa Jean (Eric Elmsonino). Einer davon ist der Typ, der Albertine (Lou Alvarez) im Abteil gegenüber sitzt. Nicht der Erste, der danach, wobei danach in der blümeranten Familiengeschichte davor heißt. Einen Typen im Zug gibt es in Julie Delpys melancholische Familienkomödie gleich zweimal: Einer hindert die erwachsene Albertine (Karin Viard) daran, mit Mann und Kindern in Kartenspiel-Position zu sitzen. Drei Stunden Bahnfahrt ohne Quartett, sowohl Sippe als auch Karten, bescheren der Mutter eine Sehnsucht, die eine tiefere weckt: nach der Kindheit, als das Titelobjekt und die Pubertät drohend über ihr schwebten.
Was unwillkürlich nach Traumata und Tragik klingt, erzählt Regisseurin in ihrer dritten von mittlerweile vier Inszenierungen ohne einen Anflug davon. Keine klassische Handlung habe sie schreiben wollen, berichtet Delpy, sondern schillernde Figuren zeigen, die eine Geschichte erleben, welche kaum dramaturgische Elemente enthält. Dies gelingt ihr mit dem selbstverfassten Drehbuch. Der konzeptuelle Erfolg birgt allerdings entscheidende Schwäche des nostalgischen Gedankenausflugs. Mit Gelassenheit übertreibt es die knapp zweistündige Fotostrecke aus semi-biografischen Anekdoten derart, dass der zahme Humor und kauzigen Figuren in Belanglosigkeit zu ersticken drohen. Ironischerweise ein realistisches Szenario anlässlich eines 67. Geburtstags, wie der von Albertines Großmutter Mamie (Bernadette Lafont), zu dem sich die Bagage in deren Landhaus einfindet.
Einige Protagonisten sind verkrampft, nicht in ihrer Darstellung, sondern äußert glaubhaft als Personen wie Annes Schwägerinnen. Andere sind dreist wie Jeans Schwager, altklug wie Albertine und ihre Cousins und Cousinen oder altersschwach wie Onkel Hubert (Albert Delpy). Diejenigen, die nicht zum Verwandtenkreis gehören, bleiben Statisten wie die Mädchen, mit denen der älteste Cousin betont erwachsen raucht, der Dorf-DJ, der ahnungslos Albertines Kinderherz anknackst, und der Zugpassagier, den ihre Mutter Anne pervers findet, weil er Mädchen winkt. Das Wetter ist heiter bis wolkig und Naturspiegel der Stimmung, die Selbstmord- und Vergewaltigungsversuche nicht trüben können. Aller Konfliktstoff und Streitgeist driftet an der Landpartie gleichgültig vorüber wie Skylab, „ein Satellit, der heute runter fällt“.
Wo weiß keiner so genau. Deshalb haben die Erwachsenen unerschöpfliches Gesprächsmaterial und Albertine Endzeitgefühle. „Vielleicht sind wir alle morgen hinüber, genau wie ihr“, sinniert sie zu einem Fang Krebse. Die Haus- und Krustentiere, die in kuriosen Schreckensszenen ihrem Ende auf den Tellern der Gäste wortwörtlich entgegenblicken und die Todessehnsucht der von Alvarez fabelhaft verkörperten Hauptfigur werfen grundlos beunruhigende Schatten. Die Umtaufe der holprigen Retro-Traigkomödie in Familientreffen mit Hindernissen ist aufgrund des Symbolismus und der Genuinität des Originaltitels doppelt bedauerlich. Noch bedauerlicher ist, dass er sich nicht als Vorbote hereinbrechenden Unglücks erweist. „Wann fällt Skylab uns auf den Kopf?“, fragt Albertine genervt von den ausgedehnten Bagatellen. Gar nicht. Eher tut es die Decke, wenn Regenschauer alle nach drinnen scheucht, wo dann über Politik, Gleichberechtigung und Kolonialherrenerbe polemisiert wird.
Sozialkritik und Ironie sind Mangelware in der idealisierten Rückschau. „Ihr Intellektuellen seid lustig“, heißt es einmal, doch hintersinnige Pointen sind in der heimeligen Familienphantasie bloßes Wunschdenken. Die Diskrepanz zwischen darstellerischem Charme und dramaturgischer Enttäuschung ähnelt der zwischen der jungen Albertine und dem herrischen Muttertier der Rahmenhandlung. So gleichen die Verhältnisse im Kino denen unter den Verwandten, über die ein Onkel bemerkt: “Man muss sie nehme wie sie sind.“ Filme zum Glück nicht.
- OT: Le Skylab
- Regie: Julie Delpy
- Drehbuch: Julie Delpy
- Produktionsland: Frankreich
- Jahr: 2011
- Laufzeit: 113 min.
- Cast: Lou Avarez, Julie Delpy, Eric Elmosnino, Aure Atika, Noémie Lvovsky, Bernadette Lafont, Emmanuelle Riva, Vincent Lacoste, Marc Ruchmann, Sophie Quinton, Valérie Bonneton, Denis Menochet, Jean-Louis Coullo’ch, Michelle Goddet, Luc Bernard
- Kinostart: 09.08.2012
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