So wie die zentralen Figuren in Tommy Kai Chung Ngs ambitioniertem Anime von ihren ungelösten Konflikten und verdrängten Gefühlen beinahe verschlungen werden, droht auch das allegorische Langfilmdebüt unter dem Gewicht seiner vielschichtigen Themen und Motive zu zerbrechen. Diese sind ungewöhnlich düster und komplex – nicht nur für einen Kinderfilm. Die symbolreiche Geschichte beginnt dort, wo viele andere enden: mit dem Tod. Der mystische Protagonist Gudo, dessen Gesicht stets hinter einer bemalten Maske verborgen bleibt, ist ein geisterhafter Begleiter durch die jenseitige Welt der Fantasy-Fabel.
Die Seelen Verstorbener müssen dieses mal zauberhaft farbenfrohe, mal bedrohlich düstere Reich durchqueren, um zur Reinkarnation zu gelangen. So auch die kindliche Hauptfigur Yuri. Doch unterdrückter Zorn und irdische Enttäuschungen, von denen sich das Mädchen nicht lösen kann, drohen sie in ein zerstörerisches Ungeheuer zu verwandeln. Gudo versucht dies mit aller Kraft zu verhindern, muss dafür aber erst die menschlichen Gefühle (wieder) erlernen, die er längst vergessen hat. Ihre gemeinsame Reise durch die sphärische Szenerie zwischen Hölle und Purgatorium bringt mit ihren Binnen-Narrativen über Trauer, Wut und die transformative Kraft von Mitgefühl mehr als genug erzählerische Substanz mit sich.
Gleichzeitig verknüpfen Regisseur Tommy Kai Chung NG und das Drehbuchautoren-Duo Polly Yeung und Saijo Naka die Haupthandlung mit zahlreichen Nebensträngen und -figuren, deren individuelle Geschichten weitere emotionale Facetten illustrieren. Diese Episoden drohen zwar, die Erzählung zu zersplittern, liefern jedoch mit ihrem brutalen Realismus und psychischen Abgründen eine ungewohnte Tiefe und Aktualität. Surreale Landschaften aus endlosen Grasfeldern, zerklüfteten Felsen und oszillierenden Wasserflächen machen seelische Zustände und spirituelle Konzepte mit symbolistisch greifbar. Abstrakte Animationen und eine immersive Atmosphäre externalisieren die psychologische Bedrängnis der Figuren.
In den fantasievollen Bildwelten wechseln expressionistische Farbigkeit und infernalische Finsternis, durchzogen von flammenden Rottönen. Die anspruchsvolle Konzeption erdet eine zeitlose Botschaft von Selbstakzeptanz und Empathie. Gewaltvoll, tragisch und hintergründig, bietet die Handlung einen wohltuenden Kontrast zur tumben Niedlichkeit konventioneller Produktionen. Die stimmige Mischung aktueller und universeller Themen – von Krieg und politischer Unterdrückung bis hin zu Verzweiflung und Schuld – verleiht der existenzialistischen Selbstsuche eine für einen Kinderfilm ungewöhnliche dramatische Tiefe und emotionale Intensität. Auch wenn die spirituelle Allegorik mitunter obskur bleibt, behält die schillernde Optik ihren phantasmagorischen Sog.
Zwar lenkt die verschachtelte Struktur von Tommy Kai Chung Ngs metaphysischem Märchen mitunter von den zentralen Aspekten der Geschichte ab, doch das filmische Wagnis versteht sich ohnehin weniger als klassische Erzählung denn als existenzialistische Kontemplation. Eine ästhetisch wie stilistisch anspruchsvolle Fusion aus Fantasy, Drama und Spiritualität, die das destruktive Potenzial aggressiver Gedanken und Gefühle anerkennt, ohne es zu verdammen. Hoffnung entsteht vielmehr durch Verständnis und die Verarbeitung des Verdrängten – ein Lichtblick in der animierten Nachtmeerfahrt, welche die kindliche Heldin gemeinsam mit ihrem geisterhaften Begleiter durchquert.
- OT: Another World
- Director: Tommy Kai Chung NG
- Year: 2025