Schutt, Scherben, Stroh, Steinplatten, Stoffstücke und verwelkte Sonnenblumen: Seltsam tot wirken diese Materialien, doch sie erhalten eigenes Leben im Schaffen Anselm Kiefers. Seine Kunst und Persona, in der Rezeption oft verschmolzen wie die Zerfall, Zerstörung, Verdrängen und Vergessen evozierenden Amalgame von Metallen, Farben und Poesie, sind Medium und Materie Wim Wenders dokumentarischer Hommage. Oszillierend zwischen Experimentalfilm und Essay tauchen die in 6K Auflösung aufgenommenen 3D-Szene in den kreativen Kosmos des Titelcharakters. Dessen Werdegang und Werk eröffnen sich non-linear und anachronistisch: familiäre Fragmente und Bruchstück deutscher Geschichte, die den 1945 geborenen Sohn eines Wehrmachtsoffiziers und Pädagogen prägte, überlappen sich auf der Leinwand.
Die materiellen und metaphorischen Trümmern, inmitten derer die langjährigen Freunde aufwuchsen, erstehen als turmhohe Stelen auf Kiefers 40 Hektar Grundstück La Ribaut im französischen Barcay. Dass Wenders Großneffe Anton die fiktionalisierte Figur eines kindlichen Kiefer und Kiefers Sohn Daniel ihn als jungen Mann verkörpert, unterstreicht die intuitive Identifikation von Regisseur und Protagonist. Beider kongeniale Kooperation ist nicht nur monographisches Monument einer medial mystifizierten Persönlichkeit, sondern die kinematische Kanonisierung der karrieristischen und kreativen Manifestation patriarchaler Privilegien. Deren absolutistisches Ausmaß unterstreicht die Reduktion weiblicher Kunststimmen zum Flüsterchorus im eine versteinerte Antikenlandschaft heraufbeschwörenden Gesamtkunstwerk, in dem Frauenfiguren nur statuesque Silhouetten ohne dichterische Dimension sind.
Mit architektonischer Präzision errichtet Wim Wenders einem der einflussreichsten Gegenwartskünstler eine cineastische Kathedrale. Messerscharfe 3D-Bilder in der ausgebleichten Farbpalette Anselm Kiefers bevorzugter Materialien beschwören dessen vielschichtiges Schaffen ebenso plastisch wie die biografischen Schlüsselerlebnisse, die es inspirierten. Der Verzicht auf Hintergrunderklärungen und Expertenmeinungen verstärkt die ästhetische und atmosphärische Wirkung der immersiven Ikonographie.
- OT: Anselm – Das rauschen der Zeit
- Director: Wim Wenders
- Screenplay: Wim Wenders
- Country: Germany
- Year: 2023
- Running Time: 93 min.
- Cast: Anselm Kiefer, Daniel Kiefer, Anton Wenders
- Image © DCM Filmdistribution