„Ziehen musst du ihn schon. Von alleine kommt der nicht raus“, sagt der Bestatter zu Roman. Der junge Auszubildende (Thomas Schubert) zerrt den Plastiksack auf die Bahre. Deutlich sichtbar in der durchscheinenden Hülle ist der Körper eines Toten. Kein alter Mensch, wie die obduzierte Tote und ein auf der Straße Verstorbener, die für Roman nun Arbeitsmaterial sind. Die Leichen werden entkleidet, kontrolliert und angezogen. Die gleiche Prozedur wartet jeden Tag auf Roman. Ausziehen, Leibesvisitation, Anziehen. Wenn er von seinem neuen Job zurückkommt, geht der 18-Jährige nicht nach Hause, er geht in den Knast.
„Ist ja nicht so, dass es dein erster Toter wäre“, sagt ein Kollege während des ersten Tags in der Leichenhalle zu Roman. Es ist ein befremdlicher Weg zurück ins Leben, auf den der österreichische Schauspieler Karl Markovics in seiner ersten Regiearbeit mit seinem seelisch versehrten Hauptcharakter betritt. Zu Ende gehen muss ihn das stille Studiensubjekt des noch stilleren Charakterdramas allein. Allein, das dringt in den Allegorien hinter der formellen Strenge durch, war der verurteilte Kriminelle schon immer. „Du warst immer drinnen, nicht wahr?“, bemerkt ein Wärter. Drinnen war erst das Kinderheim, dann das Jugendheim. Nun ist es das Gefängnis.
Das Drinnen ist die einzige Welt, die Roman kennt, das Draußen ein erschreckender Ort, mit dessen Gesetzen er nur ansatzweise vertraut ist. „Du kannst nicht dein Leben lang auf alles scheißen und dich dann wundern, dass es stinkt“, sagt sein Bewährungshelfer. Er könnte Romans Vater sein, aber er ist es nicht. Romans Vater kommt in der Handlung und Romans Leben nicht vor. Er könnte Romans Vertrauensperson sein, aber er ist es nicht. Vertrauenspersonen kommen in der Handlung und in Romans Leben nicht vor. Besetzt mit Laiendarstellern und durch unterkühlten Naturalismus konturiert, ist Markovics Jugenddrama und die von ihm skizzierte Existenz gleichsam karg und fragmentarisch.
Beide wirken wie Bruchstücke eines größeren Ganzen, dass sich in minimalistischen und lakonischen Worten andeutet. Der schweigsame Jugendliche ist so zurückweisend und verschlossen wie der Ort, an dem er lebt. Atmen erklärt nicht viel außer der Technik zum richtigen Luftholen beim Schwimmen. Das Eintauchen, Versinken und Auftauchen aus dem Wasser sind die vielschichtigsten der Metaphern, die den äußeren Realismus als stilisiertes Symbolwerk ausweisen. Hauptcharakter, Darsteller und Szenerie gehen eine Symbiose ein, deren filmisches Resultat in seiner Abkapselung zugleich intim ist und unter der reglosen Oberfläche so aufgewühlt wie das markante Figurenspiel.
- OT: Atmen
- Regie: Karl Markovics
- Drehbuch: Karl Markovics
- Produktionsland: Österreich
- Jahr: 2011
- Laufzeit: 93 min.
- Cast: Thomas Schubert, Karin Lischka, Gerhard Liebmann, Georg Friedrich, Stefan Matousch, Luna Mijovic, Klaus Rott, Reinhold G. Moritz
- Kinostart: 08.12.2011
- Beitragsbild © Thimfilm