Beim Aufwachen wären die inszenatorischen Standardformeln höchstwahrscheinlich sofort wieder vergessen, wie jeder Tag, nach dem die unter Amnesie leidende Christine Lucas (Nicole Kidman) zu Bett geht. Anders als der deutsche Titel suggeriert versucht die seit einem mit Anfang 20 erlittenen Unfall, der sich rasch als Verbrechen herausstellt, amnesische Hauptfigur nicht dem Vergessen durch Schlafentzug zu entkommen. Vielmehr fügt sie sich mit befremdlicher Fatalität in ihr bizarres Schicksal. Die Versuche, Licht ins psychische Dunkel zu bringen, wirken fast wie ein Rätselspiel, um den eintönigen Hausfrauenalltag („Ich mache nichts?“) zu entkommen.
Jeden Morgen erwacht Christine an der Seite eines Fremden (Colin Firth), der sich als ihr Ehemann Ben vorstellt und sie nicht nur von der für sie verwirrenden Außenwelt fernhält, sondern essentiellen Informationen über ihr vergangenes Leben. Das beinhaltete einen Sohn, eine beste Freundin (Anne-Marie Duff) und einen anderen Mann (Adam Levy), die alle in Flashbacks vor Christines innerem Auge erscheinen. Was die meist in Tränen aufgelöste Hauptfigur verwirrt, fügt der Zuschauer allzu leicht zur Lösung der zentralen Frage, wer Christine die fatalen Verletzungen zugefügt hat, zusammen. Zu Rätseln gibt es trotzdem einiges. Warum bekommt Christines sexy Psychiater Dr. Nash (Mark Strong) nichts mit? Welcher Psychiater behandelt eine nicht konsensfähige Patientin, der er Tag für Tag per Anruf seine Beziehung zu ihr neu erklären muss? Welcher Psychiater hält Sitzungen auf einsamen Landstraßen oder im Parkhaus in seinem Auto?
Warum interessiert Christines Freunde und Verwandte augenscheinlich nicht ihr Verbleib? Wie orientiert sich Christine außerhalb des Hauses, wenn sie sich an ihren Namen genauso wenig erinnern kann wie an Google oder Photoshop? Warum holt sie sich nicht Hilfe von offizieller Seite, die sie aus dem sich als Käfig enthüllenden Heim befreien würden? Wieso verrät sich der Täter auf denkbar unvorteilhafte Weise selbst? Die Logiklücken klaffen so weit und zahlreich, dass man selbst bei großzügigen Zugeständnissen an erzählerische Freiheit nicht darüber hinwegkommt. Suspense kann so nicht zuletzt aufgrund unzureichender Charakterisierung gar nicht erst aufkommen. Im Fahrwasser von der überlegenen Leinwand-Adaption, die Thriller-Spezialist David Fincher von Gillian Flynns Bestseller „Gone Girl“ schuf, inszeniert Regisseur Joffe sein selbstverfasstes Drehbuch ebenfalls nach einem erfolgreichen Reißer: dem Debütroman des Briten S. J. Watson.
Joffe buhlt offenkundig um das überstrapazierte Prädikat „Hitchcock’sch“. Leider verdient seine genüssliche Bestrafung einer Gattin, die ihrem Mann gegenüber ungehörig ist, höchstens das des Nachahmers von Hitchcock-Nachahmern. Etwa wie Filmemacher Robert Zemeckis, der im Jahr 2000 Schatten der Wahrheit in die Kinos brachte. Zemeckis Hauptdarstellerin Michelle Pfeiffer war damals ähnlich alt wie heute Kidman, ihre Figur erinnerte optisch an die Kidmans und war ähnlich blind für die Vorgänge um sie umher. Es gab einen suspekten Gatten, ähnlich prominent besetzt, und Schauplatz war ein ähnlich distinguiertes Umfeld. Vor allem war Zemeckis Psychothriller ähnlich aberwitzig. Joffes Werk wirkt mit seiner masochistischen Moral lediglich noch unterhaltungsferner. Da hilft nur gnädiges Vergessen.
- OT: Before I go to sleep
- Regie: Rowan Joffe
- Drehbuch: Rowan Joffe
- Produktionsland: USA
- Jahr: 2013
- Laufzeit: 93 min.
- Cast: Nicole Kidman, Colin Firth, Mark Strong, Anne-Marie Duff, Dean-Charles Chapman
- Kinostart: 13.11.2014
- Beitragsbild © Splendid/ Sony Pictures