Daniel’s World – Panorama
Für ihr Spielfilmdebüt hat sich Veronika Liskova ein denkbar heikles Thema ausgesucht. Es ist gleichermaßen eines, das durch seine Kontroversität und die stets um die nächsten Ecke lauernde Sensationsmache einen gewissen Grad an Aufmerksamkeit garantiert. Aufmerksamkeit, die das trotz seiner knapp 75 Minuten Laufzeit ungewohnt persönliche Porträt nun auf der Berlinale wohl erhält. Das Schlagwort Pädophilie weckt automatisch die Vorstellung von Tätern und Opfern. Doch der junge Protagonist der tschechischen Dokumentarfilmerin ist nichts von beidem. Ein Jahr lang beobachtete Liskova den Alltag ihres Titelcharakters.
Wenn bei einem flüchtigen Blick überhaupt etwas an Daniel auffällt, dann seine Unauffälligkeit. Er ist 25, studiert in Prag Literatur und wäre irgendwann gern Schriftsteller. Er sieht durchschnittlich aus, kleidet und stylt sich unpersönlich und hebt kaum je die Stimme. Letzte liefert den einzigen Hintergrundkommentar zu den gemessenen Aufnahmen, die das Alltagsgeschehen begleiten. Die Ausführlichkeit des Selbstberichtes überrascht erst, erscheint jedoch mit jedem weiteren Vordringen der Sozialskizze offenbarer. Es gibt niemanden, mit dem Daniel offen reden könnte, darüber, was von Außen kaum wahrnehmbar sein Dasein bestimmt. Daniel hatte nie eine Beziehung, wirklich enge Freunde gibt es offenbar nicht, nur ein paar Bekannte, die wie er sind: pädophil. Nach Liskovas Darstellung hat sich Daniel nie schuldig gemacht. Er fühlt sich von minderjährigen Jungen sexuell angezogen, aber unterdrückt seine Triebe. Er wolle keinem Kind etwas antun, beteuert er redlich und beobachten mit Gleichgesinnten am Rand eines Spielplatzes Kinder … Die Szene ist eine Ausnahme darin, dass sie eine typische Vorstellung von Pädophilen aufgreift, um deren Gültigkeit zu ergründen. Das Wichtigste sei, sagt Daniel einmal, „dass die Leute darüber sprechen.“ Er selbst tut dies zu Genüge, was verbunden mit Statistiken und der vertraulichen inszenatorischen Atmosphäre transportieren soll, wie harmlos Pädophile doch sein könnten. So wie eine Zeitbombe ein drolliger Wecker ist, bis es knallt. Das thematisch spannende Projekt gibt der Pädophilie nicht „ein menschliches Gesicht“, denn das hat sie ohnehin. Es zaubert in dieses Gesicht einen treuen Hundeblick. Der tut nichts, der will nur spielen.
- OT: Danieluv svet
- Regie: Veronika Lisková
- Drehbuch: Veronika Lisková, Zdenek Holý
- Produktionsland: Tschechien
- Jahr: 2014
- Laufzeit: 75 min.
Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern – Panorama
„Sie sind die Mutter“, sagt der Hausarzt zu Kristin (Jenny Schily), die in Stina Werenfels Beziehungskiste mit der sexuellen Eruption ihrer geistig behinderten Tochter Dora (Victoria Schulz) konfrontiert wird. Aus (sexuellem) Futterneid wird Mutterneid, weil es bei Kristin nicht mit dem Nachwuchs klappt. Dafür aber unbeabsichtigt bei Dora.
Noch eine Dosis Porno-Party und Splatter dazu und das kontroverse Thema bringt eine vollendete TV-Soap. Warum die auf einem Festival laufen muss, bleibt rätselhaft. Kameramann Lukas Strebel sucht die maximale Nähe zu den Darstellern, doch die prätentiöse Intimität entpuppt sich schnell als Voyeurismus. Nahaufnahmen von Händen, weit geöffneten Augen und Lippen sollen die neu erwachte Sinnlichkeit der Protagonistin vermitteln. In den ersten Szenen, als Dora unter Medikation steht, ist nichts von dieser Lust an jedem Reiz zu spüren. Mit Ritalin könne man sie „wacher machen“ meint der Arzt. Doch Kerstin setzt sämtliche Medikamente abrupt ab, was Doras Vater (Urs Jucker) nur zufällig erfährt. Warum das Paar nicht kommuniziert, erfährt man nicht. Nur, dass sie nicht die bedingungslos liebenden und superglücklichen Eltern sind, als die sie sich ausgeben. Aus welchem Grund die Tochter völlig mit Psychopharmaka zugedröhnt wurde, bleibt ebenfalls unklar. Es muss lange gewesen sein, denn die 18-Jährige scheint ausgehungert nach Stimuli. Eines davon ist Peter (Lars Eidinger), ein mehr als doppelt so alter Plattenbau-Proll, der Dora erst missbraucht und sich dann regelmäßig mit ihr trifft. Der schmierige Asoziale macht unmissverständlich, dass er sie nur als Objekt zur sexuellen und egozentrischen Befriedigung wahrnimmt. Sie ist einfach zu manipulieren, ihre Schwärmerei füttert seine Arroganz, vor allem aber steht sie auf Sex mit ihm.
Die Mutter will Anzeige erstatten, aber wenn die volljährige und mündige Tochter freudig berichtet, wie toll Sex ist, geht das schwerlich. Hier liegt das Kernthema der Handlung, die völlig anders ausgerichtet ist, als Filme über die sexuellen Bedürfnisse von geistig Behinderten wie Yo, tambien. Leider weiß Regisseurin und Drehbuchautorin Werenfels mit dem provokativen Thema nichts anzufangen und flüchtet sich in Sensationalismus: zuerst eine Abtreibung, dann, als wollte der Film alles auf einmal haben, doch ein Baby. Immer neue Handlungsfäden bremsen den Plot, der schließlich ins Abstruse driftet. Mit einem glaubhaften Schluss hätte es fürs Fernsehen noch gereicht, so wirkt der Stoff selbst dafür zu unausgegoren.
- OT: Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern
- Regie: Stina Werenfels
- Drehbuch: Boris Treyer, Stina Werenfels
- Produktionsland: Schweiz
- Jahr: 2015
- Laufzeit: 90 min.
Hakie – Haki. Ein Leben als Mann – Perspektive Deutsches Kino
„Ich will immer ich selbst bleiben. Was die anderen daraus machen, weiß ich nicht.“, sagt Hakie. Das wird sie wohl auch, nachdem Regisseurin Angela Angelovska die greise Protagonistin ihres Dokumentarfilms zurücklässt. In einer kargen Hütte, allein mit ein paar Hühnern und der Kuh, in einer abgelegenen Ansammlung von Gehöften in den albanischen Alpen. Die Selbstwirtschafterin macht keinen Hehl daraus, dass es ein beschwerliches Leben ist für eine alte alleinstehende Frau. Doch „Frau“, diese Bezeichnung will die 72-Jährige gar nicht hören.
„Burnesha“ sei das richtige Wort. Der atavistische Begriff steht für ein Mädchen, dass sich für ein Leben als „geschworene Jungfrau“ entschieden hat. In den sozialen Geboten der entlegenen Bergsiedlung sind Lebensoptionen wie Partner, Ehe bis der Tod scheidet und Kinder untrennbar verbunden. Das eine bekommt man nicht, ohne die anderen. Wer sich wie Hakie innerhalb der patriarchalischen Machtstrukturen keinem Mann unterwerfen will, muss komplett auf ein Familienleben verzichten. Als die Brüder und Schwestern heirateten, blieb Hakie bei den Eltern und bewirtschaftete den Hof. Das gleiche tut sie jetzt nach dem Tod der Eltern. Die Nachbarn respektierten sie, erklärt die zähe Alte, die in groben Schuhen und Herrenhosen mit der Sense das Gras schneidet. „Männerarbeit“ sei das, aber jemand muss es tun und außer Hakie ist niemand da. Alterspflege ist hier etwas, für das man vorsorgen muss, indem man Kinder in die Welt setzt. Wenn sie wie Hakie „weder den Vorfahren, noch den Nachfahren Schande bereiten“, dann werden sie sich einmal um die altersschwachen Eltern kümmern.
Auch diese Tradition hat die in ihrer Lebensführung so autark wirkende Frau befolgt. Geblieben ist ihr der Hof in der Einöde, die bald eisiger Frost überziehen wird. Der letzte Winter war hart, erinnert sie sich. Ihr Alleinsein erwähnt sie oft, es scheint der Kern eines Lebenswegs, der durch seine Abweichung von der gesellschaftlichen Norm definiert wird. Doch selbst für das Abweichende gibt es umfassendere Gebote. Ein unabhängiges Leben bedeutet für eine Frau dort ein Leben ohne Sympathie oder Unterstützung. Besser, als etwas, das einem zutiefst widerstrebt, bemerkt Hakie in der ihr eigenen pragmatischen Art, während sie stoisch ihre Arbeiten verrichtet oder Zigaretten pafft. Sie will es nicht, dieses abfällige Bedauern, wie es früher auch in unserer westlichen Gesellschaft die sogenannten alten Jungfern erfuhren und heute Frauen ohne Kinderwunsch erfahren. Und sie will diese neugierigen Filmemacher nicht mehr, die wegen ihr auftauchen: „Inzwischen nervt es.“ Zum Glück bleibt Angelovska nicht lange.
- OT: Hakie – Haki. Ein Leben als Mann
- Regie: Anabela Angelovska
- Drehbuch: Anabela Angelovska
- Produktionsland: Deutschland
- Jahr: 2015
- Laufzeit: 29 min.
Beitragsbilder © Berlinale