Berlinale Shorts
Als die Redaktion im Fazit zur Berlinale 2014 (jetzt aber wirklich den Link anklicken, sonst fehlt der Kontext) wissen wollte, was meiner Meinung nach zukünftig besser gemacht werden sollte, dachte ich: „Na klar, als ob die Berlinale Wunschkonzert wäre und Kosslick der Weihnachts- bzw. Wunschkonzert-Mann!“ Aber ich wurde auf wunderbare Weise eines besseren belehrt, denn dieses Jahr gab es sie: Pressevorführungen für die Berlinale Shorts! Ein Höhepunkt der wechselhaften Kurzfilme ist Dechen Roders Lo sum choe sum, nicht nur auf filmschöpferischer Ebene, sondern aufgrund seiner scharfen Gesellschaftskritik. Die 20-minütige biografische Episode einer jungen bhutanischen Frau zeigt mit sarkastischer Prägnanz die bittere Lebensrealität unterprivilegierter weiblicher Mitglieder eines patriarchalischen Systems. Fast beleidigend tumb wirkt dem gegenüber die inhaltliche und visuelle Hässlichkeit von Ulu Brauns Architektura. Danach glänzen selbst mittelprächtige Ideen wie Jennifer Reeders sympathische Riot-Grrrl-Hommage Blood beneath the Skin. Deren größte Schwäche ist, dass sie gefühlt 20 Jahre zu spät kommt. Gleiches gilt in der nächsten Hommage von Wregas Bhanuteja, dieses mal Amateurfilmern wie denen in seinem Lembusura gewidmet, für die Pointe. Womöglich verbirgt sich darin eine Lektion für alle, die noch im letzten Licht der Schlussblende aus dem Saal stürzen: den Abspann abwarten! Aber das muss man hier ohnehin, stehen doch noch Yoriko Mizushiris verspielte Animations-Phantasie mako und Joel Pinzzinis schwarz-weiße Gedankenreise MAR DE FOGO (man sieht, die Experimentierfreude erstreckt sich auf die Schreibweise der Titel) auf dem Programm. Selbiges ist so wild gemischt, dass kaum Überlegen nötig ist, welchen der fünf Kurzfilmblöcke im Programm man guckt. Einfach aussuchen, was zur günstigsten Zeit läuft und überraschen lassen. Unter den mal nur wenige Minuten, mal mehr als halbstündigen Werken ist garantiert für jeden etwas dabei – ob zum Zurücklehnen und Genießen oder Bemängeln. Letztes will ich im Fazit unbedingt wieder tun. Wer weiß, was es bringt?
Freiräume – Perspektive Deutsches Kino
„Die Möbel haben dann alleine in dem Zimmer gestanden“, kommentiert eine der vier Ehefrauen und Mütter, deren abrupt veränderte Lebenswelten Filippa Bauer ausleuchtet: im praktischen Sinne mit Kamera und Stativ. In ihrer einstündigen Doku, die zugleich ihr Abschlussfilm ist, erkundet die Regisseurin die Langzeiteffekte familiärer Umbrüche. Die Veränderungen sind auf den ersten Blick banaler Natur und oft lange absehbar: der Mann ist weg, weil der Tod dazwischen kam oder das Leben, die Kinder sind aus dem Haus – das auf einmal verändert scheint: leise, reglos und leer.
„Die Stille ist nicht witzig“, sagt Rosalie, die nach dem Auszug ihres erwachsenen Sohnes dessen Zimmer unverändert bereit hält, damit er sich nicht ausgeschlossen fühle, falls er mal vorbeikommt – falls. Sie spricht von Struktur, die man leicht verlieren könne, dem Alleinsein im Gegensatz zu Einsamkeit und dem Traum von einer Arbeit auf einem Ärzteschiff „auf dem Amazonas“. Aus all dem spricht die Sehnsucht nach einem Ort, der nicht unverrückbar ist und wo sie sich wieder um andere kümmern kann. „Aber da müsste man erst mal schauen“, sagt sie und der Tonfall macht klar, dass sie wohl nie schauen wird. Der Zuschauer wiederum sieht keine der Sprecherinnen, sondern das, was sie Tag für Tag sehen: leere Zimmer. Bauer erstellt intime Porträts, in denen die Porträtierten unsichtbar bleiben. Aus dem Off erzählen die Protagonistinnen aus ihren Biografien und dem neuen Alltag, dessen Relikte das Kameraauge sachlich registriert. Der Rahmen bestimmt das Bild – doch wie zutreffend kann dieses sein? Die Filmemacherin präsentiert keine zugeschnittenen Antworten, sondern überlässt es bewusst dem Zuschauer, die systematisch gesetzten Leerstellen auf der Leinwand zu füllen. Auf diese Weise stellt sich auf kinematischer Ebene die gleiche Aufgabe, die sich in der Realität den Sprecherinnen stellte.
Sylvia, Marianna und Marliese, die in anderen Orten in anderen Familienverhältnissen leben, sahen die neuen räumlichen und zeitlichen Möglichkeiten teils erwartungsvoll entgegen. Bei Marliese war die Ungeduld so groß, dass es zu Konflikten mit der erwachsenen Tochter führte. Wenn man sich freut, dass die Kinder endlich raus sind, ist man dann eine schlechte Mutter? Genießen konnte Marliese die titelgebenden Freiräume in Wohnung und Alltag vorerst nicht. In dem zum persönlichen Kreativ-Raum umgestalteten Kinderzimmer wollte die Kreativität nicht einziehen. An solchen emotionalen Knackpunkten halten die Erzählerinnen fast schuldbewusst inne und versichern, dass sie wunderbar zurecht kämen. Wäre dem nicht so, müssten sie sich womöglich fragen, ob sie zu viel für andere gelebt haben und zu wenig für sich selbst. Doch solch ein desillusioniertes Fazit widerspräche dem traditionellen Ideal der seligen Hausfrau, Gattin und erfüllten Mutter, dem die Figuren scheinbar unbewusst entsprechen will. Zuerst habe sie gedacht, ihr fällt die Decke auf den Kopf, sagt eine, aber dann habe sie versucht, es auszuhalten. Schon in diesem „aushalten“ klingt mehr Verlorenheit durch, als der positiv konnotierte Titel ahnen lässt.
- OT: Freiräume
- Regie: Filippa Bauer
- Drehbuch: Filippa Bauer
- Produktionsland: Deutschland
- Jahr: 2015
- Laufzeit: 63 min.
Berlinale Kulinarisches Kino
Was als Experiment begann, ist längst eine etablierte Sektion, die mittlerweile ihr 10. Jubiläum feiert. Zeit für ein kleines Resümee über die Sparte, die auf anderen internationalen Festivals Nachahmer gefunden hat. Womöglich sind einige davon weniger elitär als das Vorbild, das eine reichlich exklusive Veranstaltung ist. Die Tickets kosten 85 Euro. Dafür gibt es zum Film ein mehrgängiges Dinner, kredenzt von bekannten Spitzenköchen. Wer dabei ist, kriegt drei Wünsche auf einmal erfüllt: er ist bei einem Filmfestival, in speist in einem In-Restaurant und wird von einer festen Größe der Gourmet-Küche mit einem eigens zusammengestellten Menü bedacht. Klingt besser als Kinderüberraschung.
Trotz der horrenden Preise sind die Tickets begehrt, dieses Jahr vermutlich noch mehr als sonst. Damit niemandem entgeht warum, lautet das Motto in zu Kosslicks Sprachkreationen passendem Denglisch: „10 Jahre Film & Food“. Das benennt ehrlich den Kern der Veranstaltung: erst hungrig gucken, dann reinhauen. Der Fokus liegt klar auf letztem. Ich mutmaße, dass mehr Besucher den Abend danach auswählen, was auf dem Menü steht (und welcher klangvolle Name darüber), als nach der Kinovorführung. Wohlweislich legt die Filmauswahl darauf Wert, dass niemandem der Appetit vergehe. Es dominieren Filme über legendäre Weine wie Luis López Linares’ Jerez & El misterio del Palo Cortado oder besondere Restaurants wie Francesco Ranieri Martinottis Il segreto di Otello. Mehr Filme als je zuvor huldigen Sterne-Köchen wie Cooking Up a Tribute von Luis González, Willemiek Kluijfhouts Sergio Herman, FUCKING PERFECT, David Gelbs Chef’s Table Massimo Bottura und Buscando a Gastón (Finding Gastón) von Patricia Pérez. Falls jemand überlegt, woher eigentlich die Zutaten für die Schlemmer-Orgien kommen, liefern Filme über ökologisch vorbildliche Landwirte wie Phie Ambos in Så meget godt i vente (Good Things Await) das reine Gewissen. Vergessen Zustände wie auf der Berlinale 2010, als das Gratis-Wasser für die Presse statt in Glasflaschen in Imbissbuden-Style-Bechern kam und das Festival in einer Plastikflut ertrank. Oder als vorm Dinner Food, Inc. lief, für alle, die beim Anblick zerschredderter Küken denken: „Yummy, hoffentlich gibt’s gleich Chicken McNuggets!“
Wie ein Oase, auch cineastischer Art, wirkt in dieser elitären Welt Junichi Moris Little Forest. Die feinfühlige Verfilmung von Daisuke Igarashis gleichnamigem Manga zeigt das naturverbundene Leben einer jungen Frau in malerischen Episoden, jede gewidmet einer Jahreszeit. Von den insgesamt vier Folgen der Mini-rehe werden die kontrastreichen Bilder von Sommer und Winter einander gegenübergestellt. Obwohl künstlerische Werke wie Moris und hintergründige Reportagen nicht völlig aus dem Programm verbannt wurden, sind sie gegenwärtig leider die Ausnahme. Das ganze sieht verdächtig danach aus, als ob die Gourmet-Elite sich selbst feiert oder mit idyllischen Bildern suggeriert, der Kampf der Bio-Bewegungsei längst gewonnen. So kann man am nächsten Tag bedenkenlos das Tiefkühl-Hähnchen von Wiesenhof kaufen. Irgendwo müssen die Ausgaben fürs Ticket schließlich wieder eingespart werden. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Und da aller guten Dinge drei sind, davor noch ein Film.
Beitragsbild © Berlinale