Ein rundes Jubiläum ist keine Wiedergeburt – das ernüchternde Fazit eines Festivals der kreativen und konzeptuellen Kompromisse, ethischen Widersprüche und zynischer Doppelmoral. Letzte signalisierte bereits im Vorfeld die Ernennung des Jury-Präsidenten Jeremy Irons. Der erklärte Gegner der Homosexuellen- und Frauenrechte, für die einige der besten Wettbewerbs und Sektionen-Beiträge einfordern, nutzte die öffentliche Bühne zur Selbstprofilierung – und mehr. Eliza Hittmans klarer Kritikfavorit und einer der wenigen von Regisseurinnen inszenierten Bären-Kandidaten erhielt dementsprechend nicht den Hauptpreis.
Der ging an den iranischen There is no Evil des mit Ausreiseverbot belegten Regisseurs Mohammad Rasoulof. Eine konsensfähige Wahl aus einem ambivalenten Jahrgang, besudelt durch Ilja Chrschanowskis DAU. Es gibt es eben, das Böse. Die neue Doppelspitze öffnete ihm Tür und Tor. Oligarchenfinanzierter Missbrauch, Übergriffe, Gewalt, Tierquälerei, Ausbeutung und psychologische Manipulation, unter dem Deckmantel der Kunst, deren Gegenteil die dumpf kalkulierte Provokation darstellt. Menschenverachtender Kommerz braucht das ihm bereitwillig attestierte Label „Skandalfilm“ als vermeintliche Daseinsberechtigung.
Jede Aufmerksamkeit ist besser als keine, dachte wohl Carlo Chatrian, als er das Projekt einlud. Diese Haltung brachte unter Kosslick Tiefpunkte wie Nine, Mammoth, Monuments Men und Logan. Vergleichsweise harmloser Mainstream, ausgewählt als Köder für Stars. Die blieben dieses Jahr aus – und niemand unter den Cineast_innen vermisst sie. Diversitä – unter Filmschaffenden – Filmkritik, künstlerische Qualität und politische Relevanz statt krampfigen Promi-Hofierens wäre ein entscheidender (Fort)Schritt. Weg von den Ferraras, Bennings, Petzolds.
Die neue Sektion Encounters? Viel Forum, etwas Panorama. Die abgeschaffte Wettbewerbssparte außer Konkurrenz verlagertins Special. Ein Dossier über Inklusion, umfangreicher als der Frauenanteil. Ökologisch und gesellschaftlich fokussierten Beiträge aus NATIVe und dem Kulinarischen Kino? Gestrichen. Anders die traditionelle Bevorzugung deutscher Produktionen. Das konservative Establishment regiert weiter und findet sowohl unter Kartenkäufern als auch Akkreditierten genug Adepten, um noch die 100. Berlinale ohne Erneuerung zu feiern – wenn einer danach zumute ist. Möge die Zukunft endlich beginnen.
„The more monstrous the crime is, the stronger cinema must be.“
Rithy Panh
Persönliche Preisvergabe:
Bester Film: Never Rarely Sometimes Always
Beste Regie: Kelly Reichardt
Silberner Bär Großer Preis der Jury: There is no Evil
Beste Darstellerin: Sidney Flanigan & Elisabeth Moss
Bester Darsteller: Javier Bardem
Silberner Bär Herausragende Künstlerische Leistung: Mark Couliers Make-up für Pinocchio
Bester Erstlingsfilm: White Riot
Bestes Drehbuch: There is no Evil
Bester Dokumentarfilm: Welcome to Chechnya
Schlechtester Dokumentarfilm: Always Amber
Naturfreundlichster Film: Gunda
Naturfeindlichster Film: Black Milk
Bester Dokumentarfilm Politik/ Gesellschaft: Saudi Runaway
Schlechtester Dokumentarfilm Politik/ Gesellschaft: Jetzt oder Morgen
Bester Spielfilm Politik/ Gesellschaft: The Assistant
Schlechtester Spielfilm Politik/ Gesellschaft: DAU
Visuell herausragendster Film: First Cow
Visuell unterirdischster Film: Maggie’s Farm
„Get out of my competition!“-Award: Siberia
„Can I take you home?“-Award: Die mit dem besten Reaction Shot der Berlinale gewürdigte „Räuberkatze“ aus The Woman who ran.
„Leave that book alone!“-Award: Shirley
Bärendienst: Amazon Mirror
Equal-Rights-Rating (0 – 10): 27, 7 (5 von 18)
Berlinale-Taschen Rating: 2
Dümmstes Merchandise: Das Berlinale-Schulheft für happige 4,90 €, mit dem privilegierte Eltern signalisieren können, wie kultiviert ihr Nachwuchs und beachtlich ihr Bankguthaben ist.
Das Festival aus Pressesicht in einem Filmzitat: „May the disappointment keep us safe from foolish aspirations and unreasonable longing.“ (The 20th Century)