Elitarismus, politische Instabilität und eine von kolonialistischer Rassenideologie vergiftete Ständehierarchie werden Nährboden eines Grauens, zu dem das blutige Finale Atiq Rahimis filmischer Geschichtslektion nur ein Vorspiel ist. Das vernichtende Ausmaß des Genozids, der im kollektiven Bewusstsein jeden unbeschwerten Moment überschattet, ist verstörender Endpunkt und Ursprung der autobiografisch geprägten Erzählung Scholastique Mokasongas, die selbst Dutzende Verwandte durch den Völkermord verlor. In vier Akten wachsen schwelende Aggression und ethnische Ressentiments ihrer Internatszeit zur düsteren Allegorie gezüchteter Gewalt.
Die der Tutsi-Minderheit angehörenden Freundinnen Veronica (Clariella Bizimana) und Virginia (Amanda Santa Mugabekazi) beginnen die elegische Erzählung als Charaktere. Doch wie beider von politischen Ambitionen ihres Minister-Vaters infizierte Kommilitonin Gloriosa (Albina Kirenga) verflachen sie in jedem der bedeutungsschwer benannten Kapitel mehr zu Verkörperungen gesellschaftlicher Positionen. Noch überdeutlicher repräsentieren der aufdringliche Möchtegernmaler Fontenaille (Pascal Greggory) und die in ihrem religiösen Fanatismus den heraufziehenden Extremismus spiegelnde Oberin toxische Altlasten, die dem Massaker den Weg ebneten.
Destruktive Einflüsse christlicher und kolonialistischer Märchen verdrängen sukzessive einen naturverbundenen Mystizismus, den Rahimi als letztes einende Kulturgut einer tief gespaltenen Gesellschaft darstellt. Gemeinsam angestimmte Lieder und ein spontaner Tanz der durch Schulkleidung vereinheitlichten Mädchengruppe sind Grabgesänge auf eine Zukunft, die für die Protagonistinnen so finster aussieht wie für ihr Heimatland. Die mit der überbordenden Allegorik einhergehende Entpersonalisierung erschwert indes neben sozialer Zuordnung das Verständnis der situationsspezifischen Gruppendynamik einer blutrünstigen Kulmination, die einen grauenvollen Weg weist.
Basierend auf Schoalstique Mukasongas semi-biografischem Roman schafft Atiq Rahimi ein bedrückendes Lehrstück über postkoloniale Wunden, infiziert von missionarischer Bigotterie und zentraleuropäischem Rassenwahn. Der trügerisch sichere Schauplatz eines Eliteinternats wird Bühne eines parabolischen Präludiums der Massaker 20 Jahre später. Die strenge Konzentration auf den zeitpolitischen Kontext beschränkt das angedeutete Bild von patriarchalen Strukturen, Klassentrennung und Moralismus verdunkelter Jugend. Deren grausamste Lektion ist die sich wiederholender Geschichte, deren umfassende Kenntnis der Plot erwartet – hoffentlich nicht vergebens.
- OT: Notre-Dame Du Nil
- Regie: Atiq Rahimi
- Drehbuch: Ramata Sy, Scholastique Mukasonga, Atiq Rahimi
- Produktionsland: France, Belgium, Ruanda
- Jahr: 2020
- Laufzeit: 93 min.
- Cast: Pascal Greggory, Clariella Bizimana, Amanda Mugabezaki, Lisa Marie Presley
- Beitragsbild © Berlinale