In lyrischen Bildern und sanftem Tempo erzählt Kelly Richardt eine unscheinbare Geschichte von Gebäck. Doch in charakteristischer Manier steckt in der vermeintlich schlichten Story, frei nach Jonathan Raymonds Roman The Half-Life, eine komplexe Parabel über gesellschaftliche Ausgrenzung, kapitalistische Fallstricke und sozialökonomische Benachteiligung. Deren Muster verfolgt die Regisseurin und Drehbuchautorin bis zurück ins Oregon des frühen 19. Jahrhunderts, als die idyllische Natur unberührt und die schöne Neue Welt voller (Geschäfts)Möglichkeiten schien. Eine trügerische Hoffnung.
Darauf verweist neben dem vorangestellten William-Blake-Zitat die Anfangsminuten, in denen eine Hundebesitzerin (Alia Shawkat) zwei Skelette findet. Ein szenischer Brückenschlag zur Gegenwart, deren unerbittliche wirtschaftlicher Realität das allegorische Freundschaftsdrama tatsächlich behandelt. Trotz des feinen Humors und der malerischen Szenarien ist diese Welt, in der Trapper-Koch Otis “Cookie” Figowitz (John Magaro) und der chinesische Immigrant King-Lu (Orion Lee) Freunde werden, brutal und hässlich. Das (un)menschliche Verhalten kontrastiert scharf mit der landschaftlichen Schönheit.
Gier, Xenophobie, Klassenhierarchie und Gewaltbereitschaft ihres zivilisationsfernen Umfelds überschatten der friedliebenden Außenseiter kurzweiligen Erfolg. Ihre begehrten Ölkrapfen backen sie mit Milch der Titelkuh des Lokalelitären Chief Factor (Toby Jones), der die süßen Köstlichkeiten wittert. Marktmonopolismus, strategische Verknappung, die ambige Bedeutung von Luxusgütern als Genussmittel oder Statussymbol, Konsumneid und Ausbeutung, sowohl auf ökologischer als auch menschlicher Ebene, sind motivisches Fundament der poetischen Systemkritik, in der eine eingezäunte Kuh zum Sinnbild materialistischen Privilegs und wirtschaftlicher Chancenungleichheit wird.
Zum Glück gibt es das Kulinarische Kino der Berlinale nicht mehr. Sonst wäre Kelly Richardts hintersinniges Sozialdrama am Ende dort gelandet. Voll stiller Kraft kondensiert die Regisseurin aus Jonathan Raymonds Romanvorlage eine zeitlose Systemkritik, die ebenso wunderbar als tragikomische Wild-West-Story funktioniert wie als bittere Allegorie von struktureller Benachteiligung, Imperialismus und Rassismus. Subtile Details und flüchtige Momentaufnahmen bergen mehr Gesellschaftskommentar und menschliches Drama als diverse plakative Tiraden dieser Berlinale, die mehr solcher Filme braucht.
- OT: First Cow
- Regie: Kelly Reichardt
- Drehbuch: Kelly Reichardt, Jonathan Raymond
- Produktionsland: USA
- Jahr: 2019
- Laufzeit: 122 min.
- Cast: Alia Shawkat, René Auberjonois, Toby Jones, John Magaro, Ewen Bremner, Scott Shepherd, Ted Rooney, Gary Farmer, Dylan Smith, Lily Gladstone, Orion Lee, Mitchell Saddleback, Patrick D. Green, John Keating, Clayton Nemrow, Todd A. Robinson
- Beitragsbild © Berlinale