Schön auf dem Teppich bleiben ist der Titel der jüngst erschienenen Autobiografie Dieter Kosslicks, der die 71. Berlinale zu seinem Glück nicht dirigieren musste. Obwohl sich mit Rückblick die Frage aufdrängt: Wie hätte er die Situation gehandhabt? Viel schlimmer als die deprimierende Beweisführung der vorhersehbaren Erkenntnis, dass ein Festival ohne Kino, Publikum, Miteinander, Roten Teppich und Veranstaltungen keines ist, hätte es jedenfalls nicht kommen können. Im Vorfeld des auf einen Bruchteil zusammengestutzten Programms schienen monetäre Interessen vorrangiger Antrieb der vom Markt-Event dominierten Veranstaltung. Im Nachhinein scheint mindestens so wichtig die Demonstration politischer Konzessionsfähigkeit.
In traurigster Weise war die 71. Berlinale zeitgemäß. Geoblocking, das jedes digitale Konstrukt eines Gemeinschaftserlebnisses zerstört, steht analog zu Grenzschließungen. Präzise Vorgaben zu Umfang und Form der Berichterstattung steht analog zu alltägliche Verhaltensregeln. Der Goldene Bär geht an ein Werk, das die forcierte Doppelmoral unserer neuen Zeit abbildet – nicht etwa dramatisch, sondern in Art und Umständen seiner kunstlosen Machart. Die Regeltreue trägt Radu Judes Film in Form von Gesichtsmasken buchstäblich vor sich her. Um niemanden zu gefährden, behauptet der Regisseur, den niemand fragt, warum er dann sein Ensemble überhaupt dem Risiko des gemeinsamen Drehs aussetzte.
Passend zu dieser Scheinheiligkeit ist sein Film beruhigend weit weg von drängenden Moralfragen und Konflikten der Gegenwart, die selbst in vergleichsweise unverfänglichen Beiträgen wie Hong Sangsoos Introduction anklangen. Programmatisch im Wortsinne war die auffällige Abwesenheit konkreter Zeitbezüge und politischer Positionierung, auch in Beiträgen, die dazu prädestiniert schienen. Vage Parallelen wurden konterkariert von inszenatorischen Hintertüren, die problemlos eine Umdeutung erlauben. Diese sich wahlweise in Konfliktscheue, Zweigleisigkeit, Realitätsflucht und Apathie darlegende Vermeidungsstrategie ist ein Gegenentwurf dessen, was die Berlinale zu sein vorgibt. Der Titel-Kalauer der Kosslick-Biografie wirkt da fast wie eine Berufung auf frühere Werte.
Persönliche Preisvergabe
Bester Film: Petite Maman
Beste Regie: Celine Sciamma
Silberner Bär Großer Preis der Jury:
Beste Schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle: Sharlto Copely
Silberner Bär Herausragende Künstlerische Leistung:
Bester Erstlingsfilm: Censor
Bestes Drehbuch: –
Bester Dokumentarfilm: Dirty Feathers
Schlechtester Dokumentarfilm: –
Naturfreundlichster Film: From the Wild Sea
Naturfeindlichster Film: –
Bester Dokumentarfilm Politik/ Gesellschaft: Courage
Schlechtester Dokumentarfilm Politik/ Gesellschaft: –
Bester Spielfilm Politik/ Gesellschaft: Ballad of a White Cow
Schlechtester Spielfilm Politik/ Gesellschaft: The Scary of Sixty-First
Visuell herausragendster Film: –
Visuell unterirdischster Film: Bad Luck Banging or Loony Porn
„Get out of my competition!“-Award: Nebenan
„Can I take you home?“-Award:
„Leave that book alone!“-Award: The Mauritanian
Bärendienst: Tina
Equal-Rights-Rating: 2 (5/17)
Berlinale-Taschen Rating: 0 (Es gab für die Presse keine fucking Berlinale-Tasche!)
Dümmstes Merchandise: Die Berlinale-Gesichtsmaske für ein nichtstattfindendes Festival, für das besagte nicht-medizinische Maske auch nicht zugelassen gewesen wäre, hätte es stattgefunden.
Das Festival aus Pressesicht in einem Filmzitat: „Nicht nur damals, sondern erst recht heute sind Ungerechtigkeit und Verlogenheit an der Tagesordnung.“ (Werbetext: Blutsauger)
Image © Elisabeth Nagy