Die amorphe Natur des titelgebenden Nesseltieres dient Melisa Liebenthal als animalische Allegorie der Unbeständigkeit individueller Identität. Deren sozialdynamische Aufspaltung enthüllt sich bestenfalls bruchstückhaft in Melisa Liebenthals parodistischer Persönlichkeitsskizze. Die hat wie zahlreiche andere Beiträge des diesjährigen Berlinale Forums eine Prämisse, die weit origineller ist als ihre Ausarbeitung. Zweite ignoriert die kafkaeske Komik genauso hartnäckig wie den subjektiven Schrecken eines surrealen Szenarios mit einer ganzen Reihe personeller, pathologischer und parabolischer Implikationen.
Keine davon interessiert indes die Regisseurin und ihren Co-Drehbuchautor Agustín Godoy in ihrem tagebuchartigen Tableau des Alltags ihrer wortwörtlich wandelbaren Hauptfigur. Seit Wochen war Marina (Rocío Stellato) nicht mehr auf Arbeit und versteckt sich vor ihrem kolumbianischen Freund (Vladimir Durán) in der Wohnung ihrer Großmutter, die ihre Enkelin nicht mehr wiedererkannt. Der Fall von Gesichtsverlust, mit dem die junge Frau sich arrangieren muss, ist dabei weder symbolischer Natur noch imaginär.
Eines Tages hat sich Marinas Gesicht grundlos verändert. Das neue Antlitz ist weder besser noch schlechter, sondern vor allem fremd. Aus dem Spiegel schaut eine andere, deren öffentliche Legitimation mit der Sperrung des Personalausweises einzubrechen beginnt. Marina, deren Name auf den Lebensraum der Titelkreatur anspielt, fertigt indes Computer-Grafiken der Gesichter von Zootieren, deren Gefangenschaft daran erinnert, dass eine festgesetzte Identität nicht nur Stabilität darstellt, sondern Gitter vor einer beängstigenden Freiheit.
Body-Horror, Psychothriller, Fantasy-Fabel, Gesellschaftssatire: Die dramaturgischen Wege, die Melisa Liebenthals ungewöhnliche Ausgangssituation einschlagen könnte, sind vielversprechend, vielschichtig und vielfältig. Da wirkt es fast schon wie eine absichtliche Frustration der Publikumserwartungen, dass die Regisseurin nicht nur die narrativen Möglichkeiten ihrer Kernstory gänzlich ungenutzt lässt. Auch auf ästhetischer Ebene bleibt die mit dem trivialen Touch einer Soap gefilmte Geschichte einer metaphorischen Metamorphose weit hinter ihrem Potenzial zurück. Das ausdrucksarme Schauspiel passt dazu.
- OT: El rostro de la medusa
- Director: Melisa Liebenthal
- Screenplay: Melisa Liebenthal, Agustín Godoy
- Country: Argentinia
- Year: 2022
- Running Time: 75 min.
- Cast: Rocío Stellato, Germán de Silva, Federico Sack, Irene Bosch, Roberto Liebenthal, Marcelo Pozzi, Vladimir Durán
- Release date: –
- Image © Gentil Cine SRL and Zona Audiovisual