Es sei das Jahr 1991, berichtet der 10-jährige Li Chuang (Wang Shang) zu Beginn Huo Mengs epischer Familienchronik. Deren Synopsis seitens der Berlinale, deren Wettbewerb das über zweistündige Mammut-Werk einleitet, eröffnet die gleiche Feststellung, als solle unmissverständlich vermittelt werden, was angesichts des Settings kaum anzunehmen scheint. Der ländliche Mikrokosmos der desillusionierten Klassenstudie scheint wie aus der Zeit gefallen. Transportmittel sind Pferdekarren, Korn wird handgeerntet und in den Bauernhäusern gibt es weder fließend Wasser noch Heizung.
Maos „Großer Sprung nach vorn“ hat hier scheinbar nie stattgefunden. Einer der sportlichen Verweise darauf, dass dies die Ära nach der Kulturrevolution ist, sind die Knochen exekutierter Verwandter. Deren Exhumierung beobachten der kindliche Protagonist und gleichartige Gefährten in einer frühen Szene, die wunderbar Mengs Talent für das Verweben schwermütiger und humorvoller Elemente illustriert. Guo Damings grandiose Kamera macht die einfachen Menschen zum Mittelpunkt filmischer Genrebilder, die weder die Schönheit des bäuerlichen Lebens verstecken, noch dessen Härte.
Das vermeintliche Gemeinwohl steht über den Bedürfnissen des Individuums, auch staatlicher und privater Ebene. Daran erinnert ein Lautsprecheraufruf zur Schwangerschafts-Zwangsuntersuchung und der Umstand, dass Chuangs Eltern ihn bei Verwandten zurücklassen, um in der Stadt Geld zu verdienen. Der Abzug von immer mehr Landwirt*innen in die Städte findet seine ökonomische Entsprechung in den Bohrungen nach Bodenschätzen. Diese Umbrüche am Rand der auf familiäre Ereignisse fokussierten Handlung zeigen den Fortschritt als zwiespältigen Abschied von der jahrhundertealten Landwirtschaftskultur.
Im Zeitraum eines Handlungsjahres, das mit dem Frühling beginnt und mit dem Winter endet, überrollt die Figuren Huo Mengs ein über Jahrzehnte aufgestauter historischer Wandel. Die Ära der Urbanisierung und Technologisierung trifft die vom Wirtschaftsboom abgeschnittene Landbevölkerung wie ein weiteres der Umweltdesaster, denen sie sich seit Generationen widersetzen. Nur hilft diesmal kein Widerstand. Grüne Felder weichen kargem Brachland und das lebendige Porträt dörflichen Lebens erinner gen Ende an eine ausgebleichte Sepia-Fotografie; zärtlich-bitteres Monument eines vergessenen Verlusts.
- OT: Sheng xi zhi di
- Director: Huo Meng
- Screenplay: Huo Meng
- Year: 2025
- Distribution | Production © m-appeal