Die interessanteste Frage Lionel Baiers historischen Pastiches ist noch, wer darin wessen Claim to Fame ist. Die Handlung basiert auf den 2015 erschienen Roman Christophe Boltanskis, Neffe des Installationskünstlers Christian Boltanski. Der wiederum ist nun fiktionalisierter Protagonist der eklektischen Ensemblekomödie, die sich während der Proteste im Mai 1968 in der Stadtvilla beider gemeinsamer Großfamilie entfaltet. Der 9-jährige Protagonist (aufgeweckt, aber hölzern: Ethan Chimienti) bleibt wie die restliche Verwandtschaft namenlos, steht aber klar für den Romanautor.
Durch seine Augen entfalteten sich die Handlung, die Ausschreitungen und Polizeigewalt während der Proteste für den Rücktritt de Gaulles wie eine Unterhaltungsveranstaltung an einem landesweiten Feiertag aussehen lässt. Diese komfortable Distanz und gleichzeitige selbstgerechte Vereinnahmung des politischen Zeitgeschehens hätte eine aktuelle Kritik an einer sich selbst als Intellektuelle definierenden Bourgeoisie werden können. Baiers possierliches Historienstück ist indes das Gegenteil. Christopher Eltern demonstrieren trotz ihres Gesellschaftsstatus, weshalb der Junge die Tage bei den Großeltern verbringt.
Der herzliche Großvater (Michel Blanc in seiner letzten Rolle) ist Christophes bester Freund. Die durch ihre Gehbehinderung definierte Großmutter (Dominique Reymond) verfasst Texte über die Arbeiterklasse – denn die Sippe kämpft natürlich auch akademisch für die unterdrückten Klassen, die bezeichnenderweise nie gesehen werden. Die exzentrische Uroma trauert ihrer Jugend als Ballerina in Russland nach. Der jüngere Onkel (Aurélien Gabrielli) versucht sich als Künstler, der ältere verführt mit als Linguist (William Lebghill) mit seiner Wortgewandtheit junge Studentinnen.
Der Plot zerfällt in eine Reihe humoristischer Episoden, die den Klan wie ein französisches Pendant einer Wes-Anderson-Filmfamilie aussehen lässt. Das Trauma des Holocaust hängt schwer über der jüdischen Familie, ein Todesfall bringt alle enger zusammen und ein unerwarteter Gast sorgt für milden Aufruhr. Doch nichts davon weckt authentische Gefühle. Baiers verklärter Blick auf die Charaktere und ihre Zeit potenziert die bereits auf dem Papier, das man während der gestelzten Dialoge förmlich rascheln hört, angelegte Idealisierung.
Arriviertes Schauspiel und altbackener Humor wirken seltsam passend für die bornierte Memoire eines Nepo-Babys. Lionel Baiers Sammelsurium semi-biografischer Anekdoten enthüllt die narzisstische Bequemlichkeit einer sich selbst als Intellektuelle definierenden Bourgeoisie bestenfalls unbeabsichtigt, indem er deren bigotten Blick auf die historischen Hintergrundereignisse übernimmt. Die harschen geschichtlichen Ereignisse reduziert die taktlose Inszenierung zum Amüsement der Mittelschicht. Die seichte Adaption Christophe Boltanskis gleichnamigen Bestsellers zelebriert den gefahrlosen Pseudo-Aktivismus und die egozentrischen Spleens der kurios künstlich anmutenden Charaktere.
- OT: La cache
- Director: Lionel Baier
- Screenplay: Lionel Baier, Catherine Charrier
- Year: 2025
- Distribution | Production © mk2 Films