Es muss alles ein Missverständnis sein, sagt Samuel (Anton Weil) gegenüber seiner jüngeren Schwester. Rose (Marie Bloching) wird diese Formulierung bei der polizeilichen Befragung wiederholen. Es ist ein Missverständnis, ihr Bruder habe die Situation anders erlebt, man könne doch darüber reden. Später ergänzt sie gegenüber einer Freundin, Samuel könne sich ja entschuldigen. Roses groteskes Bagatellisieren der Anschuldigung, die Sarah Miro Fischers beeindruckendes Spielfilm-Debüt vorantreibt, ist traurig repräsentativ für die allgemeinen Reaktionen auf Vorwürfe sexueller Gewalt.
Die junge Protagonistin erfährt davon durch die Vorladung zur Zeugenbefragung, bei der sie für ihren großen Bruder lügt. Die Regisseurin zeigt dem Publikum vorab, was Rose in der fraglichen Nacht sieht: das Opfer im Zimmer ihres Bruders. Der tatsächlich Hergang bleibt unklar. Außer Frage steht ihr inniges Verhältnis zu Samuel, der sie nach der Trennung von ihrer Freundin bei sich aufgenommen hat. Mittels kleiner Momente etabliert die zurückhaltende Inszenierung in beider Rapport aus Kinderjahren übernommene Muster.
Der große Bruder war immer da. So sagt es Rose in einer zärtlichen Ansprache auf seiner Geburtstagsfeier, als sie schon von den Vergewaltigungsvorwürfen weiß. Der Fokus des ruhigen Gewissensdramas liegt auf dem seelischen Konflikt der Hauptfigur, die der Titel durch ihre liebevolle Geschwisterbeziehung definiert. Doch in dem Kosewort steckt auch ein Verweis auf ihre Gewissensbisse. Rose muss ihr Herz befragen, wie sie ihre ethischen Werte mit ihren familiären Gefühlen vereint. Und wer ihr Bruder wirklich ist.
Er sei kein Monster, versichert Samuel in einer Szene gefährlich nah am Klischee. Doch Fischers psychologische Perspektive ist differenzierter und zeigt Abgründe gerade dort, wo der Boden am sichersten scheint. Samuel ist kein Monster, doch die wenigsten Täter entsprechen diesem Stereotyp und auch gewöhnliche Menschen tun schreckliche Dinge. Der gegen die Opfer arbeitende Justizapparat ist willkommen, wenn er im eigenen Interesse arbeitet, und selbst diejenigen, die vorher Zweifel hatten, wollen den Fall möglichst schnell ad Acta legen.
Mit Blick für die Feinheiten zwischenmenschlicher Interaktion und dramatischer Zurückhaltung betrachtet Sarah Miro Fischer den Vorwurf sexueller Gewalt aus einer ebenso selten beachteten wie bedeutsamen Perspektive. Ihre junge Titelfigur muss als Zeugin und Angehörige neben ihrer ethischen Integrität auch vermeintlich unverrückbare emotionale Gewissheiten prüfen. Selma von Polheim Gravsens subtile Kamera macht das Gefühl wachsender Verunsicherung im schleichenden Abbau der wohligen Atmosphäre greifbar. Präzises Schauspiel und eine durchdachte Handlung schaffen ein psychologisches Drama von ruhiger Kraft.
- OT: Schwesterherz
- Director: Sarah Miro Fischer
- Screenplay: Sarah Miro Fischer, Agnes Maagaard Petersen
- Year: 2025
- Distribution | Production © New Europe Film Sales