Mythen, Märchen und Magischer Realismus vereint Alice Rohrwachers bezaubernder Wettbewerbsbeitrag zu einer visuell und narrativ gleichsam faszinierenden Film-Fabel. Deren Geschichte und Bilder sind so reich an verborgenen Facetten, jede mit einer den Interpretationsspielraum erweiternden Hintergrund-Historie, wie der Boden im ländlichen Italien. Dort buddeln der mürrische Hauptcharakter und seine kleinkriminellen Komplizen nach Antiquitäten, die sie an einen anonymen Hehler verscherbeln. Während seine karnevalesken Kumpane weltlichen Genüssen frönen, sucht der nach unfreiwilliger Abwesenheit zurückgekehrte Arthur (Josh O’Connor) nach seiner verlorenen Liebe Benjamina. Seine Streifzüge mit den pragmatischen Plünderern führen ihn auf Orpheus Spuren in eine etruskische Totenwelt, deren Geister irdischen Ansprüchen geopfert wird.
Mit ob ihrer Schlichtheit umso wirkungsvolleren Effekten erzählt die Regisseurin von einer spukhaften Schönheit, deren Zerbrechlichkeit irdischen Augen nicht standhält. Fragen nach ideellen und materiellen Werten historischer Kulturgüter, nach individuellen und institutionellen Besitzansprüchen sowie der Ethik von Exhumierung weben sich in die tragische Romanze, in deren kauziges 80er-Jahre-Setting Nostalgie und Nekrophilie verschmelzen. Alles überschattet eine Aura vergangenen Grandeurs: die marode Villa von Benjaminas Mutter (Isabella Rossellini), die zusammengesuchten Alltagsrequisiten ihrer jungen Musikschülerin Italia (Carol Duarte), Arthurs schmutziger weißer Anzug. Der beschwört ein verblichenes weltmännisches Ideal und markiert ihn zugleich als Pierrot dieser cineastischen Chimäre aus Commedia dell’arte, Schelmenroman und antiker Tragödie.
Die morbide Magie der Vergänglichkeit, die Sehnsucht nach dem Verlorenen und der universelle Wunsch, den Tod zu transzendieren – ob mit musealen, spirituellen oder kriminellen Mitteln – sind die komplexen Leitthemen Alice Rohrwachers letzten Teils ihrer toskanischen Trilogie. Der zärtliche Zauber klassischer Sagen und spätromantischer Spukgeschichten unterwandert den herben Neo-Realismus der Inszenierung. Deren Spiel mit Super-16, 35mm und 16mm-Format evoziert auch auf visueller Ebene die Titelkreatur, deren phantastische Form treffend das motivische Mosaiks versinnbildlicht.
- OT: La Chimera
- Director: Alice Rohrwacher
- Screenplay: Marco Pettenello, Alice Rohrwacher, Carmela Covino
- Country: Italy, France, Switzerland
- Year: 2023
- Running Time: 130 min.
- Cast: Isabella Rossellini, Josh O’Connor, Alba Rohrwacher, Carol Duarte, Luca Chikovani, Vincenzo Nemolato, Chiara Pazzaglia, Milutin Dapčević, Julia Vella, Francesca Carrain, Barbara Chiesa, Elisabetta Perotto
- Image © Ad Vitam