Der Titel des Films, der wenig überraschend die Goldenen Palme gewann, schien fast symbolisch. Auch wenn der Stromausfall, der am letzten Tag der 78. Filmfestspiele Cannes und die gesamte Region für gut fünf Stunden lahm legte, kein Unfall war, sondern augenscheinlich Brandstiftung. Dazu bekannte sich mittlerweile eine Anarchisten-Gruppe, die am Folgetag einen ähnlichen Anschlag auf Nizza verübte. Doch Ausfälle und Anarchie konnten dem Festival nichts anhaben – zumindest nicht den Events für die Stars. Zwar erwischte der Vorfall die kurz zuvor gestartete Pressekonferenz zu Kelly Reichardts The Mastermind und unterbrach die Filmvorführungen im Palais du Cinema, doch der Hauptort des Festivals hat sein eigenes Notstromaggregat.
Einige Publikumsvorführungen fielen aus, doch die Preisverleihung fand planmäßig statt. Die Goldene Palme an Jafar Panahis parabolisches Road Movie It Was Just an Accident war ein typischer Konsens. Ein guter, wenn auch nicht der beste Film eines verdienten Regisseurs, mit einer klaren politischen Botschaft, die bei niemandem Anstoß erregt. Staatsgewalt im blutigen Sinne und ein repressives Regime lieferten auch den Handlungsrahmen Kleber Mendonça Filhos The Secret Agent, der für die Beste Regie und Hauptdarsteller Wagner Moura ausgezeichnet wurde. Beide wirkten ebenfalls wie Ausweichmanöver für nicht mehrheitsfähige kontroverse oder kantige Kandidat*innen. Julia Ducournaus retro-dystopische Allegorie sozialer Stigmatisierung Alpha ging komplett leer aus.
Ebenso Reichardts doppelbödiges Heist Movie und Lynne Ramsays sarkastisches Psychogramm Die, My Love. Die einzige Filmschaffende, die außerhalb des in reaktionäre Gender-Konzepte unterteilten Schauspielpreises bedacht wurde, war Mascha Schilinski. Der Jury Preis, den ihre abgründige Familienchronik mit Oliver Laxes apokalyptischem Road Trip Sirât teilt, ist ein karger Verweis auf zwei der formal und inhaltlich spannendsten Wettbewerbsbeiträge. Beide wären verdientere Werke als Joachim Triers patriarchalische Soap und das manipulative Milieu-Theater Dardenne-Brüder, deren Auszeichnung Cannes konservativen Grundkurs betonen. Zu den elitären Black Tie Screenings, die sicherstellen, dass niemand ohne Budget für reaktionäre Abendkleidung in den Kinosaal kommt, kommt ein verschärfter Red Carpet Dresscode.
Mit dem Oxymoron „Nude Dressing“ wurden freizügige Outfits vom Roten Teppich verbannt. Zu viel Stoff in Form „exzessiv voluminöser“ Aufzüge ist auch nicht erwünscht. Noch grotesker waren die Ansprachen Triers und Robert De Niros. Der für sein Lebenswerk ausgezeichnete Kinoveteran feierte sich selbst und den Saal voll privilegierter Reicher und Berühmter als „Résistance“ gegen politische Unterdrückung und lobte Cannes Inklusion, Diversität und Toleranz. Die Verblendung des weißen, männlichen, klassistischen, kolonialistischen, ableistischen Kino-Klüngels grenzte a Satire, wenn auch unfreiwilliger. Ähnlich egozentrisch klang Triers Danksagung, in der es hieß, Cannes sei ein Ort “where we can identify with each other in contemplation, in empathy,”.
Am Rande des Festivals traf eine umstürzende Palme ein Mitglied des Filmteams von Brand New Landscape, der in der Parallelveranstaltung Director‘s Fortnight seine Premiere feierte. Das war tatsächlich nur ein Unfall – und eine bizarre Metapher für eine Veranstaltung, deren Elitarismus, wie Vicky Krieps es im Interview empathisch beschrieb, fast physisch schmerzt. John C. Reilly lieferte dazu auf der Preisverleihung das adäquate Schlusswort: “Luckily, the films presented have provided all the electricity we needed this week.” Jedenfalls für die kleine Elite im Palais, wo dank Notstromversorgung das Spotlight weiter scheint. Denn die einen sind im Dunkeln. Und die anderen sind im Licht…