In We Need to Talk About Kevin zeichnete Lynne Ramsay ein ebenso amüsantes wie abgründiges Porträt einer Frau, die erkennen muss, was für ein wortwörtlich fataler Fehler Mutterschaft war. Zugleich Fortführung und Vertiefung dieser Thematik ist ihr in Cannes uraufgeführter Wettbewerbsfilm. Der ist weniger dramatische Erzählung, als subjektives Stimmungsbild der jungen Protagonistin. Grace, von Jennifer Lawrence mit roher Intensität verkörpert) treiben die Geburt ihres ersten Kindes und das monogame Familienleben von der Depression in den Wahnsinn.
Die geistige Wandlung antizipiert die infernalische Eingangsszene der elliptischen Story. Das idyllische Waldstück um das von Grace (Lawrence) und Partner Jackson (ebenbürtig ungeniert: Robert Pattinson) brennt lichterloh. Einer der Zeitsprünge, die gezielt die chronologische Ordnung führt das Publikum zurück zu den ersten Wochen des leidenschaftlich verliebten Paares im neuen Heim. Jenes kommt mit einer grotesk gewaltvollen Geschichte und familiärem Ballast. Die für Geister-Grusel charakteristischen Elemente interpretieren die neurotischen Symptome der aspirierenden Schriftstellerin als spukhaftes Schicksal.
Graces Dämon ist Domestikation. Geburtstrauma, traditionelle Gender-Rollen und erstickende Gesellschaftsnormen. Während Jackson der heimeligen Hölle durch einen Job außerhalb entkommt, sitzt Grace daheim mit Baby und Schreibblockade. Dazu kommt bald ein dauerkläffender Hund. Den schleppt Jackson an, ungeachtet ihrer Feststellung, dass sie wegen einer Rattenplage eine Katze brauchen. Triviale Konflikte entarten in immer bösartigere, brutalere Auseinandersetzungen. Intellektuelle Monotonie, Mutterpflichten und sexuelle Frustration brechen als animalische Aggression durch die familiäre Fassade, die Graces Umfeld aufrechterhalten will.
Sardonischer Humor und sezierende Satire verflechten sich zu einer sarkastischen Dekonstruktion sozialer und filmischer Narrative. Ironischerweise lassen gerade das häusliche Harmonie-Streben, das vorgetäuschte Verständnis und der spießbürgerliche Small Talk, die Grace beruhigen sollen, die Protagonistin fast physisch die Wände hochgehen. Wie ein eingesperrtes Tier kratzt sie sich an Badezimmer-Tapete die Finger blutig. Doch aus dem Käfig mütterlicher Monogamie gibt es kein Entkommen. Diese resignative Ratio vermittelt Grace nicht nur ihre solidarische Schwiegermutter Pam.
Genial dargestellt von Sissy Spacek, steckt Pam in ihrer eigenen psychischen Krise nach dem Tod ihres langjährigen Ehemannes (Nick Nolte). Die rebellische Demaskierung toxischer Ideale und patriarchalischer Institutionen verbindet subversive Systemkritik aufs Effektivste mit rabenschwarzem Humor. Geschickt gestreute Anleihen aus dem Genre-Kino dienen als atmosphärische Andeutungen psychologischer Desintegration. Jump Cuts, intime Nahaufnahmen und kontrastreiche musikalische Cues kreieren eine expressive Optik. Visuell externalisiertes Chaos zieht das Publikum unmittelbar in die konsequent affirmierte Wahrnehmung der Hauptfigur.
In ihrer enorm immersiven Psychostudie taucht Lynne Ramsays in das delirierende Denken Ihrer Protagonistin. Jene ist ein aggressiver Gegenentwurf zum Stereotyp der irren Ehefrau. Weiblicher Wahn ist Produkt patriarchalen Normzwangs, der schon Generationen an Frauen vor ihr gebrochen hat. Bissig, brutal und dennoch voll einfühlsamer Zärtlichkeit positioniert sich die anarchische Inszenierung mit ihrer Heldin. Deren emotionale Eskalation ist die angemessene Reaktion auf einen monogamen Konformismus, von dem einzig dessen Zerstörung befreit. Burn it all down.
- OT: Die, My Love
- Director: Lynne Ramsay
- Year: 2025