In ihrem dystopischen Debüt-Drama blickte Chie Hayakawa 2022 auf eine Gesellschaft, die alte Menschen als ökonomischen Ballast betrachtet. Drei Jahre, nachdem Plan 75 in Cannes in der Nebensektion Un Certain Regard ausgezeichnet wurde, präsentiert die japanische Regisseurin nun im Wettbewerb des Filmfestivals ihr zweites Werk. Dessen Prämisse scheint auf den ersten Blick eine komplett gegensätzliche. Die Handlung, in ruhigen, trügerisch harmonischen Kamerabildern erzählt, spielt im Tokio der späten 80er, wo die kleine Fuki (lebhaft verkörpert von Newcomer Yui Suzuki) mit Tod und Trauer konfrontiert wird.
Ihr Vater Keiji (Lily Franky) hat Krebs im Endstadium und wurde von ihrer Mutter Utako (Hikari Ishida), die mit der mentalen, organisatorischen und finanziellen Belastung kämpft, in ein Hospiz eingewiesen. Ihre Tochter spricht kaum und nie direkt über ihre Gefühle, denen ihre Eltern in der herausfordernden Situation keine Beachtung schenken. Je mehr die 11-Jährige in dem behüteten, doch emotional isolierenden Mittelklasse-Haushalt auf sich gestellt ist, desto tiefer versinkt sie in ihre Phantasiewelt. Jene ist unerwartet morbide und melancholisch; ein seelischer Spiegel Fukis existenzieller Anteilnahme am äußeren Geschehen.
Immer wieder taucht die impressionistische Inszenierung unvermittelt in diesen geheimnisvollen Gedankenkosmos, der nahtlos in die Realität übergeht und aus ihr entspringt. Exemplarisch für diese externalisierte Introversion ist eine beunruhigende Szene, in der Fuki erst mit einem bedrohlichen Fremden telefoniert und nachts von ihm in ihrem Kinderzimmer erwürgt wird. Erst die Anschlusseinstellung enthüllt das Geschehen als eine Kurzgeschichte, die Fuki für den Schulunterricht geschrieben hat. Andere ihrer Tagträumereien, wie ein Pferd, das wie zufällig durchs Zimmer läuft, entsprechen eher der einer kindlichen Imagination gern zugesprochenen Harmlosigkeit.
Ihr fragile Kraft entfaltet die zärtliche Charakterstudie jedoch gerade in den Momenten, in denen sich die Düsterkeit und Destruktivität kindlicher Vorstellungskraft offenbaren. Angst, Einsamkeit und Gewalt erscheinen darin nicht pathologisiert, sondern als natürlicher und notwendiger Anteil geistiger Entwicklung. Die flüchtigen Freundschaften, die Fuki mit ihrer Klassenkameradin Kuriko (Yuumi Kawai) und dem älteren Kaoru (Ryota Bando) sucht, bleiben zu skizzenhaft, um eine ähnlich emotionale Resonanz zu entfalten. Mal bittersüß, mal banal, verliert sich die ätherische Erzählung, die allzu viel im Vagen belässt, in nostalgischer Sentimentalität.
Bereits der Titel Chie Hayakawas zarten Vignetten einer Kindheit im Schatten von Verlust und Trauer verweist auf dessen impressionistische Ästhetik. Jene erstreckt sich auf die narrative Ebene der episodischen Handlung. Die wechselt in fließenden Übergängen zwischen der filmischen Wirklichkeitsebene und Fluchten in die kindliche Imagination. Deren einfühlsame Visualisierung gibt auch der Regisseurin einen dramaturgische Freiraum, innerhalb dessen sie zu einer vielschichtigeren und berührenderen Bildsprache findet. Leichthändiges Schauspiel, insbesondere der jungen Hauptdarstellerin, kann den Mangel dramatischer Substanz indes nur bedingt auffangen.
- OT: Renoir
- Director: Chie Hayakawa
- Year: 2025