Die Leinwand, deren Aufnahme Bi Gans enigmatisches Ode an ein Jahrhundert des Kinos rahmt, erscheint altarartig erhoben, von Kerzen umgeben und geisterhaft leuchtend wie ein Heiligtum. Das ist sie auch für den chinesischen Regisseur, dessen epischer Beitrag zu Cannes Wettbewerb der Macht und Magie der bewegten Bilder nicht nur huldigt, sondern sie synergetisch aufsaugt und ausstrahlt. Es ist ein inszenatorischer Prozess nicht unähnlich dem der „Fantasmer“ des dystopischen Szenarios, in dem die Menschen die Fähigkeit zu träumen für ein ewiges Leben aufgegeben haben.
Die Fantasmer sind die letzten, die noch träumen. Doch diese als gefährlich erachtete Fähigkeit, die das Raum- und Zeitgefüge der düsteren Zukunftswelt ins Wanken bringt, macht sie zu Gefangenen und Gejagten. „Big Others“ genannte Personen verfolgen die Fantasmer, die eingesperrt in ihren Traum-Film-Welten altern und vergehen, und wecken sie auf, um dem Chaos Einhalt zu gebieten. Einen an Nosferatu erinnernder Fantasmer (Jackson Yee) verfolgt eine Other (Shu Qi) durch diese Traumwelt. Deren Set-Kulissen und harte Schatten beschwören im ersten Segment das expressionistische Kino der Weimarer Republik.
Doch in Anlehnung an zahllose Sagen und Melodramen hat die Schöne Mitleid mit dem Monster. Der Zauber ihrer Zuneigung lässt es als jungen Mann auferstehen während auch das Szenenbild sich wandelt. Kulisse und Stilistik entsprechen nun den pessimistischen Kriminalplots des Film Noir. Märchenhafte, mystische und metaphorische Aspekte verweben sich zu einer cineastischen Zeitreise, übervoll mit optischen, akustischen, dialogischen und musikalischen Referenzen an Klassiker des Kinos. Beider Weg führt in fünf Episoden durch fünf filmische Stilrichtungen, von den stummen Anfängen des Kinos bis zur Gegenwart.
Was nach abstraktem Akademismus klingt, entfaltet sich auf der Leinwand mit hypnotischer Plastizität. Manchmal zitiert Bi Gan ganze Sequenzen, manchmal nur eine Einstellung. Manchmal sind es charakteristische Situationen oder Figuren. Ein Detective (Mark Chao) wie aus einem Hard-Boiled B-Movie der 40er, einen Tempel wie aus den Technicolor-Fantasy-Spektakeln der 60er oder die kriminelle Unterwelt eines in Neon-Licht getauchten 80er-Thrillers. Manchmal gilt die Referenz nur einer bestimmten Trope, einem Requisit oder Instrument. Wie das Theremin, das blutige Finger spielen. Die Geschichten sind alt und immer neu, eine elliptische Elegie ohne Ende und Anfang.
Hommagen an die Filmkunst gibt es zahllose, doch die wenigsten entfalten den visuellen und thematischen Facettenreichtum Bi Gans mesmerierenden Movielogues. Dessen Story ist tatsächlich ein Puzzle aus Episoden, die klassische Narrative illustrieren und typische Charaktere interpretieren. Dieses hintergründige Spiel mit Referenzen und Zitaten ruht auf einem hochkomplexen Unterbau historischer, stilistischer und philosophische Bezüge. So fokussiert sich jedes der Handlungskapitel auf einen der fünf Sinne und beschwört immer wieder Visionen von Tod und Wiedergeburt. Berauscht von der Vergangenheit vergisst die grandiose Phantasmagorie die Zukunft.
- OT: Kuang ye shi dai
- Director: Bi Gan
- Year: 2025