“Wie kann etwas weh tun, wenn es gar nicht mehr da ist?“, fragt die jüngste der vier jungen Erzählerinnen. Deren ideosynkratische Sichtweisen auf Mascha Schilinskis historischen Handlungsteppich prägt die Wahrnehmung der Ereignisse und zugleich die symbolistischen Bildwelten. Eine gespenstische, mitunter regelrecht schreckenserregende Aura umfängt die sich auf vier Zeitebenen entspinnenden Story. Jene verwurzelt die Geschichte einer ostdeutschen Großfamilie tief in der Landesgeschichte. Diese wiederum wird immer wieder zum Katalysator sadistischer Impulse, sexueller Perversion und patriarchalischen Machtmissbrauchs.
Noch konsequenter und vor allem komplexer richtet Schilinski, die das romaneske Drehbuch mit Louise Peter verfasste, den Blick auf die weiblichen Mitglieder der bürgerlichen Sippe. Ihre Traumata und dunklen Geheimnisse manifestieren sich während des Ersten Weltkriegs, Ende des Zweiten Weltkriegs, in den 80ern und der Gegenwart. Angst, Trauer und Beklemmung überdauern den Wandel der Zeit, die durchlässig scheint gegenüber Leid und Schmerz. Das Gestern hängt über dem Heute wie ein unheilvoller Schatten, den nur die Protagonistinnen wahrnehmen.
Teenager Erika (Lea Drinda) fetischisiert ihren verstümmelten Onkel Fritz (Martin Rother), der seit der Amputation seines Beins in einem Zimmer des abgelegenen Bauernhofs dahinvegetiert. Ihre Mutter Alma huscht als 7-jähriges Mädchen (fabelhaft: Hanna Heckt) durch die gleichen rustikalen Räume, in denen währen der DDR-Jahre Erikas Schwester Irm (Claudia Geisler-Bading) mit ihrer wilden Teenager-Tochter Angelika (Lena Urzendowsky) lebt. Jahrzehnte später zieht ein Berliner Elternpaar mit denen Töchtern Lenka (Laeni Geiseler) und Nelly (Zoë Baier) in den alten Hof.
Ihre verklärte Wahrnehmung des Ortes, der fast ein Jahrhundert physischer und psychischer Grausamkeiten speichert, betrachtet die Loslösung von der Geschichte ebenso kritisch differenziert wie den reflexartigen Rückfall in die destruktiven Muster der Vergangenheit. Jene steht bald in Gestalt der Nachbartochter Kaya (Ninel Geiger) auch bei ihnen vor der Tür. Wenn Lenka und Kaya immer wieder den gleichen Song von Sängerin Anna von Hausswolff hören, versinnbildlicht die Wiederholung des deskriptiven Texts auch das Auferstehen des vermeintlich Toten.
Diese Deutung unterstreicht Almas Ähnlichkeit zu einer verstorbenen Schwester, die, wie ihre anderen Schwestern neckend anmerken, vielleicht in ihr wiedergeboren sei. Auch wenn die Symbolik bisweilen überdeutlich und übermäßig zu werden droht, verleihen die gespenstische Ästhetik und das herausragende Schauspiel dem Geschehen eine hypnotische Intensität. Fabian Gampers kunstvolle Kamera schafft mittels Ausbleichen, Sepia und Oxidationseffekten grandiose Bilder, die mal wie Gemälde wirken, mal wie Tableaus Vivants oder verblasste Fotographien. Die sonore Sound-Kulisse verstärkt den unheimlichen Nachhall des hermetischen Historienhorrors.
Wie die Phantom-Schmerzen im Beinstumpf eines der wenigen männlichen Charaktere, die in Mascha Schilinskis symbolreicher Schauerhistorie eine tragende Rolle spielen, tun die epigenetischen Wunden weiterhin weh, obwohl sie nicht mehr da ist. Mit analytischem Gespür für psychopathologische Untertöne horch die Regisseurin auf die erstickten Echos einer epischen Familiensaga. Deren in den Grundzügen schlichter Plot entwickelt sich konzentrisch um Ereignisse, deren Nachwirkungen sich über Jahrzehnte wellenartig offenbaren. Ein schwermütiger Soundtrack, fesselndes Schauspiel und morbide Optik kreieren eine altdeutsche Gothic Novel in Filmform.
- OT: In die Sonne schauen
- Director: Mascha Schilinski
- Year: 2025