Wenn ein Kinderfilm so wie Mailys Vallades und Liane-Cho Hans Langfilm-Debüt mit einer faktischen Behauptung der Existenz Gottes beginnt, ist das schon mal problematisch. Nicht nur für den säkularen Anteil der im Falle der animierten Adaption Amelie Nothombs biografischen Bestsellers „The Character of Rain“ besonders jungen Zuschauerschaft. Gerade religiös erzogene Kinder finden eine bedenkliche Bestätigung kreationistischer Konzepte in der süßlich-sentimentalen Story einer kolonialen Kleinkinderzeit im Japan der späten Nachkriegsjahre. Das verklärt die frühkindliche Perspektive der Titelfigur in ein exotisiertes Idyll.
In jener in post-impressionistischen Pastelltönen gehaltene Wunderwelt erlebt die auch als Off-Erzählerin fungierende Amélie (Stimme: Loise Charpentier) ihre ersten drei Lebensjahre. Als Tochter des belgischen Diplomaten Patrick (Marc Arnaud) und der Schauspielerin Daniele (Laetitia Coryn) wächst sie mit ihren älteren Geschwistern Juliette (Haylee Issembourg) und Andre (Isaac Schoumsky) in großbürgerlichem Wohlstand auf. Dazu gehört auch ihr junges japanisches Kinder- und Hausmädchen Nishio-San (Victoria Grobois), das dem lebhaften Mädchen seine volle Aufmerksamkeit und Zeit widmet.
Ein Leben jenseits ihrer Bedienstetenpflichten hat Nishio-San augenscheinlich nicht. In der Dramaturgie und Wahrnehmung der kleinen Protagonistin existiert sie einzig, um deren unersättliches Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Abenteuern zu befriedigen. Selbst eine formal originelle Szene, in der Nishio-San ihr Kriegstrauma offenbart, relativiert eine Entschuldigung: Nicht, dass die harsche Realität die neo-kolonialistische Nostalgie stört! Entsprechend feindselig erscheint die Vermieterin Kashima-San (Yumi Fujimori), die Nishio-San mit Verweis auf die Kriegsverbrechen erinnert, dass sie nicht zu Amélies Familie gehört.
Die kolonialen, klassistischen und rassistischen Hierarchien, die in Dramaturgie und Charakterisierung allgegenwärtig sind, direkt anzusprechen, erscheint als hartherzige Rückständigkeit. Diese defensive Doppelmoral ist exemplarisch für die manipulative Inszenierung. Sie nutzt das Konzept kindlicher Unschuld zu einer historischen Absolution, die materielle, strukturell und politische Abhängigkeitsverhältnisse idealisiert. In Einklang rassistischer Stereotypen erscheint die eurozentrische Kultur als Maßstab, um die alles andere „das Fremde“ ist. Asiatische Erwachsene sind auf einem Niveau mit weißen Kindern, deren allegorische Egomanie legitimiert wird.
Weiche Formen, konturlose Silhouetten und zarte Pastelltöne betonen die infantile Idealisierung des subjektiven Szenarios Liane-Cho Hans und Mailys Vallades zärtlichen Zeichentrickfilms. Basierend auf Amélie Nothombs autobiografischen Anekdoten übernimmt die Handlung konsequent die kindliche Sichtweise ihrer Titelheldin. Deren Megalomanie und Machtanspruch werden als ebenso selbstverständlich und natürlich dargestellt wie die christlich-klerikalen und kolonialistischen Untertöne. Kleinkindliche Frustration scheint vor diesem Hintergrund relevanter als historische Traumata und rassistische Repression. Die impressionistische Imagination der symbolistischen Animationen lanciert narzisstischen Revisionismus.
- OT: Amélie et la métaphysique des tubes
- Director: Liane-Cho Han, Mailys Vallade
- Year: 2025