Main Character Syndrome ist keine medizinische Diagnose, sondern bezeichnet die Neigung einer Person, sich selbst als die Hauptfigur eines übermäßig dramatisierten Lebensromans zu betrachten. Die anderen spielen dabei nur Nebenrollen oder vielleicht Schurken, die Aufmerksamkeit des Publikums gehört der Hauptfigur. Dieses Vorwissen ist essenziell zur Einordnung Romane Bohringers autobiografisch gefärbten Doku-Dramas. An dessen Stelle war augenscheinlich eine Roman-Adaption geplant. Die französische Regisseurin wollte Clementine Autains titelgebendes Buch adaptieren. Doch das Main Character Syndrome war stärker.
Statt der Geschichte Autains, deren Buch ebenfalls autobiografische Aspekte enthält, erzählt Bohringer ihre eigene Geschichte. Die zeigt bestimmte Parallelen zum Leben der Autorin, deren Werk in einer der ersten Szenen in einer Talk Show besprochen wird. Autain ist die Tochter der Schauspielerin Dominique Laffin. Die heute längst vergessene Darstellerin verstarb 1985 mit nur 33 Jahren, als Autain 12 war. Vermutlich war es Freitod, offiziell Herzversagen. Um ihr eigenes Leben zu leben, ließ Laffin ihre Tochter zurück.
Statt der Mutterrolle wollte sie auf der Leinwand spielen. Das tat sie unter anderem in Claude Millers This Sweet Sickness, Originaltitel: Dites-lui que je l’aime. Dieser Kontext wird bruchstückhaft und verworren in Bohringers eigene Adoptionsgeschichte gestreut. Beider Biografien auseinanderzuhalten, ist oftmals schwierig, umso mehr, da Bohringer auf eine fiktionalisiertes Form setzt. Reale Persönlichkeiten wie die französische Autorin Christine Angot spielen sich selbst. Dabei sind die Parallelen im Grunde nur eine, und selbst die ist karges Material für einen ganzen Spielfilm.
Die in Christine Angots titelgebendem Buch geschilderte Geschichte ihrer Mutter, der Schauspielerin Dominique Laffin, dient Romane Bohringer als Aufhänger eines filmischen Familienromans. Jenes mit interviewartigen Unterhaltungen und langatmigen Talking Heads Erzählungen Selbstporträt umreißt die triviale Autobiografie nur unscharf. Im Vordergrund der Fake-Doku, der Filmausschnitte und Fotos Laffins einen Hauch tragischen Glamour und Mysterium geben sollen, stehen Bohringers Gefühle gegenüber der abwesenden Mutterfigur. Das wirre Arrangement aus Archivmaterial pendelt zwischen Selbstbespiegelung und Selbsttherapie, ohne nennenswerten Mehrwert.
- OT: Dites-lui que je l’aime
- Director: Romane Bohringer
- Year: 2025